Freitag, 30. Dezember 2011

Der Engel im Liegewagen


Flüstert der fremden Frau neben sich "gute Nacht" zu. Steht in Unterhosen auf und hilft einem Neuankömmling mit dem Gepäck. Isst am Morgen mit frisch gekämmtem Haar seine mitgebrachten Stullen aus der Papiertüte, engagiert sich in der Frage, wo im Zug man wohl Kaffee bekommt und wünscht schliesslich seinen wortkargen Mitreisenden ein Gutes Neues Jahr, bevor er mit zwei abgeschabten Koffern aus dem Zug steigt und seine Flügel ausbreitet.

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Erklär mir, Liebe


Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –



Erklär mir, Liebe!


Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube stellt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Enterich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldener Staub umsäumt.


Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!


Erklär mir, Liebe!


Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an die Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!



Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!


Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
Sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermisst?



Du sagst, es zählt ein andrer Geist auf ihn ...
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.



(Ingeborg Bachmann)

Donnerstag, 15. Dezember 2011

(ausgegraben II) Wiener Tagebuch

Es ist eine einfache Geschichte, wie eine simple Melodie. Ich sage, ja, sie ist es und setze mich noch einmal, um sie bis zu Ende zu hören. 
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Ich: War es da?
Sie: Was willst du denn nun wieder wissen? Nein, es war früher. Es war viel früher als du dir denken kannst. Es war schon an meinem ersten Tag in Berlin, in eurer grossen Wohnung. Ich war früh aufgestanden, wie immer, ich brauche nie mehr als fünf Stunden Schlaf. Jemand stand im Bad unter der Dusche und sang. Es war ein Stück, das ich von irgendwoher kannte.
Ich: Es war Recordame von Joe Henderson. Ich wollte eigentlich allein sein wie jeden Morgen und erschrak, als ich in die Küche kam und dich ganz still am Küchentisch sitzen sah.
Sie: Ich war gespannt, wie die Frau aussehen würde, die zu dieser Stimme gehörte.
Ich: Du trugst ein schwarzes Kleid und schwarze lange Stiefel, als wärst du bereit, sofort aufzuspringen und wegzulaufen. Ich hatte mein Micky-Maus-T-Shirt an und wollte mir Tee kochen, bevor ich mich wie jeden Morgen ans Klavier setzte.
Sie: Es war ein kalter Winter. In der Nacht hatte es geschneit, der Schnee, der auf der Strasse lag, war noch weiss und unberührt.
Ich: Ich denke, wir sollten unsere Geschichte heute erfinden, denn bald könnte es zu spät dafür sein.
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Sie: Hast du Angst vor der Zukunft?
Ich: (schweige)
Sie: Einmal hatte ich eine Zukunft: Ich wäre eine Bäuerin gewesen und Goldfuss mein Bauer. Ich wäre die Bärin gewesen mit vielen tapsenden Bärenkindern. Ich habe am Zugfenster gestanden, der Wind hat meine Tränen weggerissen. Als ich in Berlin ankam, war ich geheilt, so sagt man.
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Ein Film läuft vorwärts und rückwärts, ich liege im Sessel mit halb geschlossenen Augen. Halt! rufe ich, Stop! Der blaue, weiss gepunktete Morgenmantel, die Zähne, die Unterlippe leicht berührend, die Hand, durchs Haar streichend, die Hand an der Schulter, am eigenen Schulterblatt, die weissen Hände, Kinderhände.

Bauernhände, Proletenhände, sagt sie. Und:
Mein oberösterreichischer Hintern.
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Wann, frage ich.
Sie: Ich weiss es nicht, frag mich nicht.
Ich: Denk nach, es ist höchste Zeit, es bleibt uns fast keine Zeit mehr.
Sie: Ja warte, es war vielleicht in Berlin, am Tag vor dem Umzug. Du bautest dein Hochbett ab. Stundenlang hörte man nur das Hämmern aus deinem Zimmer, und manchmal tauchtest du ganz verstaubt auf.
Ich: Im Himmel gibt es keinen Staub!
Sie: Und abends ging ich mit den anderen ins Café an der Ecke. Du sagtest, ich komme vielleicht nach, aber wartet nicht auf mich. Und dann kamst du. Du trugst eine alte grüne Lederjacke. Es war, als hätten wir die ganze Zeit nur auf dich gewartet. Aber jetzt musst du mir etwas sagen.
Ich: Was?
Sie: Du musst mir sagen, woher deine Kopfschmerzen kamen.
Ich: Du wolltest mir an jenem Tag die schönste Aussicht über das oberösterreichische Land zeigen. Sind wir eigentlich jemals zu dem Aussichtsplatz hinaufgestiegen? Da siehst du, wie meine Erinnerung nachlässt. Es war der erste warme Tag in diesem Jahr. Wir legten uns ins Gras, du auf deinen Mantel, ich auf meine Jacke. Kleine Tiere krabbelten über meinen Arm.
Sie: Das erklärt noch nichts.
Ich: Du hast viel geredet an dem Nachmittag.
Sie: Ja, das kann so gewesen sein. Ich habe dir viel erzählt. Aber dein Schweigen war nicht immer angenehm.
Ich: Du hast zwar viel gesagt, aber das Wesentliche musste ich erraten.
Sie: Warum willst alles wissen, wofür wolltest du auch damals alles wissen?
Ich: Damals dachte ich, ich würde nichts vergessen, aber jetzt fange ich schon an, deine Stimme zu vergessen.
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Als der letzte Ton verklungen ist, bleibe ich noch ein wenig sitzen. Dann stehe ich auf und gehe. Die Tür lasse ich geöffnet. Als könnten die Töne mich finden, als würden sie mir folgen...

Sonntag, 11. Dezember 2011

(ausgegraben I:) Die Freundin

Ich schlief unruhig. Es lag an der harten Matratze, und an der dicken Decke, unter der ich schwitzte. Ich träumte, dass sie sagte, ich würde mich immer nur mit toten Männern und deren Leben beschäftigen. Es war so echt, dass ich noch am Tag dachte, sie hätte es wirklich gesagt! Ich träumte auch, dass sie nach dem Aufwachen etwas zu mir sagte, mit gerunzelter Stirn. Dabei lag sie mit geschlossenen Augen neben mir, das Gesicht ruhig und glatt.

Als ich im Halbdunkel aufwachte und den Körper neben mir wahrnahm, wollte ich schon die Hand ausstrecken, um sanft ihr Gesicht zu berühren. Rechtzeitig fiel mir ein, dass wir uns seit Jahren nur noch schwesterlich berührt hatten. Meine Güte, schwesterlich! Zur Begrüssung küssten wir uns auf den Mund oder knapp daneben, und manchmal, wenn sie nicht hersah, wischte ich mir die Lippenstiftspuren weg.

Ich war immer froh, sie zu sehen, mit ihr zum Beispiel in den Doppeldeckerbus zu steigen, sofort auf die obere Plattform zu stürmen und, wenn der Platz frei war, ganz nach vorne zu gehen, wo wir unsere Füsse auf den kleinen Vorsprung vor dem Fenster stellten. Dann war es gut, in Berlin zu leben, dann sprachen wir einmal nicht vom Weggehen.

Sie sagte: Wenn ich das richtig sehe, dann wohne ich in zwanzig Jahren immer noch in meiner Butze und bin dann schon fünf Jahre älter als die Frau, die über mir wohnt und die ich vor fünf Jahren, als ich hier einzog, bemitleidete, weil sie in dieser Einzimmerwohnung hängengeblieben war.

Wir setzten uns in ein Café und aßen Sahnetorte, lasen uns aus den Zeitschriften vor, die dort herumlagen, bis es draußen dunkel war. Wir lagen auch gern nebeneinander auf ihrem oder meinem breiten Bett und erzählten einander Dinge aus unserem Leben. Manchmal legte sie den Kopf auf meinen Schoss, aber eigentlich selten. Wir sprachen meistens über wechselnde Liebschaften, von denen es im Lauf der Jahre erstaunlich viele gab. Wir waren immer ein wenig eifersüchtig auf die Geliebten der anderen, hatten uns aber schon an dieses Gefühl gewöhnt.

Eines Tages, sagte sie, du wirst sehen, werden wir noch zusammen fortgehen. Ja, bloss wohin, sagte ich. Sie sagte, komm du erst einmal zurück.

An diesem Morgen brachte sie mir  mir Kaffee mit heisser Milch ans Bett, in einer blauen Schale. Ich trank, während ich auf dem Bauch lag und verschluckte mich fast. Ich weiss nicht, ob mir schon einmal jemand Kaffee ans Bett gebracht hat, sagte ich, ich bin das gar nicht gewöhnt, beinah hätte ich ihn jetzt verschüttet.

Es war viertel nach sieben, als wir uns vor dem Haus verabschiedeten. Sie drückte mir einen feuchten Kuss auf die Lippen. Ich stieg aufs Fahrrad und fuhr nach Hause, um meine Kisten zu packen.

Freitag, 2. Dezember 2011

Schön und grau und dezembrig

Und ein Mann stand im Hauseingang und rauchte und hatte seine Kaffeetasse auf dem Türgriff abgestellt, was ich nicht sehen konnte, als ich die Tür von der anderen Seite aufdrückte, weshalb der Kaffeepott hinabsegelte und auf dem Steinboden zerschellte. Er sah mich an, als hätte ich Schuld an diesem Unglück und sammelte trotzig mit den Füßen die Scherben zusammen, und später schwemmte er auch trotzig, nach zweimaligem Hinweis, den Kaffee mit Hilfe von sehr viel Wasser weg, fast so, als wäre er, der mindestens zwanzig Jahre älter war als ich, ein aufmüpfiger Junge und ich die strenge Lehrerinnen-Mutter.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...