Freitag, 18. Oktober 2013

Die Birke, das Haus




Die russische Violonistin und Komponistin erzählt von ihrer Reaktion, als ihre Birke im Hinterhof beim letzten Arbeitstag der Eigentümergemeinschaft umgesägt wurde. Ich befand mich im Schock, sagt sie, ich nahm den Rest des Baums in meine Arme und tanzte mit ihm, ich weinte und schrie. In unserer Tradition, erklärt sie, spielen Bäume eine große Rolle, und vor allem Birken haben eine besondere Kraft, sie können die Aura reinigen. Sie erzählt davon, wie sie ihren Baum grüßte, mit ihm sprach, stolz auf ihn war, ihn betrachtete, ihn manchmal umarmte. Wenn man einen Baum zurücklässt, sagt sie, hat man der Erde etwas Gutes getan. Vor allem ihre Mutter hatte nach dem Zerstören des Baumes das Gefühl, ihr Leben sei verwirkt. Sie ist so alt, dass sie nie wieder einen Baum so groß werden sieht. Nach diesem Ereignis sei ihre Mutter drei Tage nicht aus dem Bett gekommen, ihre Werte seien rapide schlechter geworden, sie habe ununterbrochen geweint. Sie selbst, sagte die russische Violonistin und Komponistin, habe einige Tage lang nicht arbeiten können, sie sei nicht zu kreativer Arbeit in der Lage gewesen, sie habe in Erwägung gezogen, auszuziehen, dieses Haus zu verlassen, in dem man ihr mit so viel Herablassung und mangelndem Respekt begegnet. Ich erwarte nicht, dass man mich liebt, sagt sie, aber ich erwarte, dass ich Fragen stellen darf, ohne Angst zu haben, unfreundlich behandelt zu werden. Sie erzählt von dem kleinen Möwenjungen, das im Frühling auf dem Hof gelebt hat und schließlich von den Hunden der Vorsitzenden der Eigentümervereinigung getötet wurde. Sie ertrage es nicht, dass in diesem Hof die Vögel von den Hunden getötet würden, sie habe auch das Möwenjunge beweint, die ganze Zeit habe sie gehofft, dass die großen Möwen es beschützen würden, denn wenn sie versucht habe, sich dem Möwenjungen zu nähern, seien sie im Sturzflug herabgesaust gekommen vom Dach, aber, sagt die russische Violonistin und Komponistin, ich werfe es mir heute vor, dass ich nicht stärker gegenüber der Vorsitzenden reagiert habe, dass ich nicht mehr Respekt eingefordert habe, hundertmal habe ich mich gefragt, ob mein Baum nicht noch leben würde, wenn ich nicht zu freundlich gewesen wäre, zu unterwürfig (sie zeigt ein unterwürfiges Lächeln). Sie riecht an dem Apfelkuchen, den ich mitgebracht habe, bricht in Begeisterung aus, gießt sich einen dünnen Instantkaffee auf und bittet um Entschuldigung, weil sie nur Teebeutel anzubieten hat. Sie zeigt mir ihr Feng Shui Fensterbrett, auf dem Kerzen stehen und Schnittblumen in Vasen, sie fragt mich, ob ich eine Aloe Vera haben will, die sie aus einem kleinen Steckling gezogen hat, sie habe keinen Platz dafür, bringe es aber auch nicht fertig, sie wegzuwerfen.


Immer mehr wird mein Leben von Transitmenschen bevölkert, und ich stelle fest, dass ich mich in ihrer Gesellschaft wohlfühle. Menschen, die nicht so fraglos im Dasein zu Hause sind, die auf die eine oder andere Weise Fremde darstellen, die sich nicht so selbstverständlich in eine Normalität einpassen können. Die junge Iranerin aus dem Eingang C, so erzählt die russische Violonistin und Komponist, sei nach dem Baummord zu ihr gekommen und habe sie umarmt, das habe ihr so gut getan, sie sei aber nicht in der Lage gewesen zu sprechen, sondern sei in eine tiefe Schwermut verfallen. Die Vorsitzende der Eigentümervereingung sei wortlos die Treppe hinauf verschwunden, ihre Mitbewohnerin M, habe sie angeschrien, so erzählt die russische Violonistin und Komponistin, mit einer fürchterlich grellen Stimme habe sie geschrien, und sie macht das Schreien pantomimisch nach, mit aufgerissenem Mund, einem verzerrten, beinah unmenschlichen Gesicht. Die Tatsache, dass M so krank ist und vielleicht nicht mehr lange leben wird, rechtfertigt nicht, dass die Vorsitzende der Eigentümervereinigung ihre Mitmenschen respektlos und verächtlich behandelt, und wenn sie keine Zeit für die Anliegen der Bewohner hat, dann soll sie ihren Posten abgeben, was sowieso das Beste wäre. Wenn sie es aus eigenem Entschluss tun würde und sich nicht an die Macht klammern. Als ich der russischen Komponistin und Violonistin gegenüber sitze, wird mir plötzlich bewusst, an welchen Wahnsinn wir uns gewöhnt haben, in welchem Alptraum wir uns hier befinden, in einer Eigentümergemeinschaft, in der die Mehrzahl von uns sich nur geduldet fühlt, denn eigentlich sind wir nur lästig mit unseren Wohnproblemen und unserer physischen Gegenwart. Sogar wenn ich im Garten sitzen will, sagt die russische Violonistin und Komponistin zu mir, habe ich den Eindruck, dass ich um Erlaubnis bitten muss.

2 Kommentare:

yael hat gesagt…

wow. powerful! thank you.

Hineshm hat gesagt…

Danke Yael, ich freue mich, dass du meinen Blog besucht hast.

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