Freitag, 8. Februar 2013

Warum ich gern in der Nacht Zug fahre

Die rauhe Nacht, das Rumpeln, ein freundlicher Schaffner, das Gefühl, von einem schicksalshaften Zufall zusammen in dieses Abteil geworfen zu sein. Das beinah Tierhafte, die Abwesenheit von Rollen, Masken. Jeder schläft, schreckt wieder auf, schläft wieder ein, qualvoll verdreht. Füße berühren einander, Atemzüge vermischen sich, die Welt fliegt vor dem Fenster vorbei. Dann wieder steht der Zug lange irgendwo im Dunkeln, unbegreiflich, ohne dass etwas geschieht, ohne dass man weiß, wo er sich befindet. Am Morgen findet man sich langsam und mühsam wieder, setzt sich zusammen, wünscht seinem Gegenüber einen guten Morgen, sammelt sich, geht wacklig hinaus auf den Gang, wäscht sich das Gesicht. Man ist seinen Mitreisenden irgendwie näher gekommen, verabschiedet sich aber auch leicht. Wenn man im Speisewagen sitzt, Kaffee trinkt und ein Croissant isst, ist man schon wieder zurück in der Welt der scharfen Linien. Die Speisewagenschaffnerin arbeitet widerwillig und mürrisch, ein Amerikaner fragt sie, ob sie "angry" sei, aber sie kann ihm nur antworten, wo er Milch und Zucker findet.

(Und das Geräusch des Öffnens und Schließens der Abteiltüren, die Schritte im Gang, das Schlagen von Gepäck gegen die Abteilwände, wenn der Zug gerade in einen Bahnhof eingefahren ist, alte Fahrgäste aus- und neue zusteigen.)

Kurz vor der Abfahrt des Zuges in Frankfurt kam ein Mann an die Abteiltür und sagte auf englisch, es fehlten ihm noch etwa 20 € für seine Fahrkarte nach Budapest. Er zeigte den Fahrplan für einen Zug, der in 40 Minuten abgehen sollte und das Geld, das er bereits hatte, etwa 140 €. Ich gab ihm drei €, fühlte mich geizig, und gleichzeitig dachte ich, dass er mir wahrscheinlich eine Flunkergeschichte erzählte. Die drei € waren für den Fall, dass es doch keine Flunkergeschichte war und dass er einige Leute wie mich brauchte, die so taten, als glaubten sie ihm.

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