Donnerstag, 24. Oktober 2013

Der Versuch, sich an das Kind zu erinnern

Der Versuch, sich an das Kind zu erinnern


Das beleidigte Kind. Das Kind, das die anderen strafen möchte mit seinem Beleidigtsein. Das Kind, das sich in seinem Zimmer aufs Bett wirft und schreit. Das Kind, das seinen Mund an das Schlüsselloch legt und schreit. Jeder soll es hören, im ganzen Haus. Das Kind, das entdeckt, wie es die Aufmerksamkeit bekommt. Doch nach einer Weile funktioniert es nicht mehr. Der Vater kommt und verbindet die Wunden. Das kann der Vater. Die Mutter schimpft, wenn sie sich schmutzig gemacht hat, unvorsichtig gewesen ist, wild, wenn sie wieder einmal um die Ecke gelaufen ist, ohne sich zu bremsen, wenn sie jetzt wieder ein Hörnchen auf der Stirn hat, und sie nimmt selbst ein Messer aus der Schublade und wiegt es auf dem Hörnchen hin und her, so wie sie es der Mutter abgeschaut hat.

Das Kind, das genügsam mit seinem Honigbrot spielt, auf der Bank am Esstisch liegend. Die Hand tastet sich zu dem in säuberliche Vierecke geschnittenen Brot mit dem Butter und dem Honig. Ihr Mund ist ein Räubermund, sie klaut sich selber das Honigbrot weg, listig und leise, während die Mutter in der Küche das Geschirr spült.

Erwachsensein war eine große Gefahr. Das Erwachsensein würde sie zunichte machen, sie wäre eine andere, und so sah sie ihren Tod schon voraus, ihre komplette Umwandlung in etwas Anderes, nicht Wünschenswertes.

Sie jagt die Treppe hinauf und hinunter, immer auf der Suche nach etwas Aufregendem, nach dem Abenteuer in ihrem gescheitelten Leben. Sie baut sich Höhlen und legt ihre Schätze dort hinein. Sie geht auf den Speicher und blickt auf die kleinen Menschen hinunter. Am liebsten baut sie, legt Landschaften an im Sandkasten, bastelt kleine Brücken, Wege, oder errichtet Dämme im Bach, legt die Umrisse eines Hauses in einer Waldlichtung auf den Boden. Sie kriecht in einen hölzernen Anhänger mit Plastikplane, sie klettert auf Dächer und springt aus den Rohbauten in die Sandhaufen. Spielplätze locken nur die Kletterlust in ihr. Und Bäume benützt sie zum Schaukeln, zum Schwingen, dazu, hoch zu kommen, einfach immer höher zu steigen. Sie reißt Zweige von der Weide ab, bastelt sich eine Pferdepeitsche und treibt ihr imaginäres Pferd an. Oder sie fährt im Hinterhof der Großeltern mit dem Roller im Viereck herum, oder im Sommer mit dem Fahrrad durch den Wald.

Sie ist immer in irgendwelchen Wettbewerben, Olympiaden, in der Weltmeisterschaft des Badezimmerputzens, in der Meisterschaft des Schnellwaschens. Wenn sie bis zehn gezählt hat, muss sie schon fertig gewaschen sein.

Sie trägt später Bücher mit Chemie- und Physikexperimenten aus der Bibliothek nach Hause, stellt sich in die Küche, wenn die Mutter gerade weg ist und macht nur die ersten, einfachsten Experimente im Buch. Für die schwierigen Experimente fehlt ihr das Material, aber auch die Geduld, die Ausdauer. Die Mutter sieht nicht gern, dass sie in der Küche "herumpritschelt". Sie hat einen ungeheuren Bewegungsdrang, kann nicht still sitzen, alles muss schnell gehen, immer möchte sie die Erste sein. Sie findet Essen langweilig und möchte es schnell hinter sich bringen.

Wo sie wohnen, ist wirklich nichts besonders oder schön, aber ihr gefällt es. Sie denkt nie daran, dass sie woanders wohnen sollten. Sie möchte keine Veränderung, alles soll so bleiben, wie es ist, die Mutter zuhause, wenn sie aus der Schule kommt, mit der Schürze in der Küche, die Spüle blankputzend, und im Topf auf dem Herd ist das Essen noch warm.

Jede Jahreszeit hat etwas Schönes. Sie kann im Dunkeln in der Küche sitzen und hinausschauen, während der Schnee im Schein der Straßenlampen wirbelt. Sie leben in einer einfachen Gegend. An den Abenden geht noch ein Mann herum und zündet die Gaslaternen an, aber nicht mehr sehr lange, dann wird das auch elektrisch gehen.

Sie zweifelt nicht an sich selber, ist ganz unbesiegbar, hüpft von Gehsteigplatte zu Gehsteigplatte, versucht, den zerbrochenen Platten auszuweichen. Sie möchte immer bauen, ungewöhnliche Orte finden, und in Gedanken richtet sie sich den Keller als ihr Reich ein, mit einem Bett und einem großen Basteltisch. Im Keller der Freundin machen sie chemische Experimente und dann gehen sie in die Wohnung und blättern im Tagebuch der großen Schwester der Freundin.

Freitag, 18. Oktober 2013

Die Birke, das Haus




Die russische Violonistin und Komponistin erzählt von ihrer Reaktion, als ihre Birke im Hinterhof beim letzten Arbeitstag der Eigentümergemeinschaft umgesägt wurde. Ich befand mich im Schock, sagt sie, ich nahm den Rest des Baums in meine Arme und tanzte mit ihm, ich weinte und schrie. In unserer Tradition, erklärt sie, spielen Bäume eine große Rolle, und vor allem Birken haben eine besondere Kraft, sie können die Aura reinigen. Sie erzählt davon, wie sie ihren Baum grüßte, mit ihm sprach, stolz auf ihn war, ihn betrachtete, ihn manchmal umarmte. Wenn man einen Baum zurücklässt, sagt sie, hat man der Erde etwas Gutes getan. Vor allem ihre Mutter hatte nach dem Zerstören des Baumes das Gefühl, ihr Leben sei verwirkt. Sie ist so alt, dass sie nie wieder einen Baum so groß werden sieht. Nach diesem Ereignis sei ihre Mutter drei Tage nicht aus dem Bett gekommen, ihre Werte seien rapide schlechter geworden, sie habe ununterbrochen geweint. Sie selbst, sagte die russische Violonistin und Komponistin, habe einige Tage lang nicht arbeiten können, sie sei nicht zu kreativer Arbeit in der Lage gewesen, sie habe in Erwägung gezogen, auszuziehen, dieses Haus zu verlassen, in dem man ihr mit so viel Herablassung und mangelndem Respekt begegnet. Ich erwarte nicht, dass man mich liebt, sagt sie, aber ich erwarte, dass ich Fragen stellen darf, ohne Angst zu haben, unfreundlich behandelt zu werden. Sie erzählt von dem kleinen Möwenjungen, das im Frühling auf dem Hof gelebt hat und schließlich von den Hunden der Vorsitzenden der Eigentümervereinigung getötet wurde. Sie ertrage es nicht, dass in diesem Hof die Vögel von den Hunden getötet würden, sie habe auch das Möwenjunge beweint, die ganze Zeit habe sie gehofft, dass die großen Möwen es beschützen würden, denn wenn sie versucht habe, sich dem Möwenjungen zu nähern, seien sie im Sturzflug herabgesaust gekommen vom Dach, aber, sagt die russische Violonistin und Komponistin, ich werfe es mir heute vor, dass ich nicht stärker gegenüber der Vorsitzenden reagiert habe, dass ich nicht mehr Respekt eingefordert habe, hundertmal habe ich mich gefragt, ob mein Baum nicht noch leben würde, wenn ich nicht zu freundlich gewesen wäre, zu unterwürfig (sie zeigt ein unterwürfiges Lächeln). Sie riecht an dem Apfelkuchen, den ich mitgebracht habe, bricht in Begeisterung aus, gießt sich einen dünnen Instantkaffee auf und bittet um Entschuldigung, weil sie nur Teebeutel anzubieten hat. Sie zeigt mir ihr Feng Shui Fensterbrett, auf dem Kerzen stehen und Schnittblumen in Vasen, sie fragt mich, ob ich eine Aloe Vera haben will, die sie aus einem kleinen Steckling gezogen hat, sie habe keinen Platz dafür, bringe es aber auch nicht fertig, sie wegzuwerfen.


Immer mehr wird mein Leben von Transitmenschen bevölkert, und ich stelle fest, dass ich mich in ihrer Gesellschaft wohlfühle. Menschen, die nicht so fraglos im Dasein zu Hause sind, die auf die eine oder andere Weise Fremde darstellen, die sich nicht so selbstverständlich in eine Normalität einpassen können. Die junge Iranerin aus dem Eingang C, so erzählt die russische Violonistin und Komponist, sei nach dem Baummord zu ihr gekommen und habe sie umarmt, das habe ihr so gut getan, sie sei aber nicht in der Lage gewesen zu sprechen, sondern sei in eine tiefe Schwermut verfallen. Die Vorsitzende der Eigentümervereingung sei wortlos die Treppe hinauf verschwunden, ihre Mitbewohnerin M, habe sie angeschrien, so erzählt die russische Violonistin und Komponistin, mit einer fürchterlich grellen Stimme habe sie geschrien, und sie macht das Schreien pantomimisch nach, mit aufgerissenem Mund, einem verzerrten, beinah unmenschlichen Gesicht. Die Tatsache, dass M so krank ist und vielleicht nicht mehr lange leben wird, rechtfertigt nicht, dass die Vorsitzende der Eigentümervereinigung ihre Mitmenschen respektlos und verächtlich behandelt, und wenn sie keine Zeit für die Anliegen der Bewohner hat, dann soll sie ihren Posten abgeben, was sowieso das Beste wäre. Wenn sie es aus eigenem Entschluss tun würde und sich nicht an die Macht klammern. Als ich der russischen Komponistin und Violonistin gegenüber sitze, wird mir plötzlich bewusst, an welchen Wahnsinn wir uns gewöhnt haben, in welchem Alptraum wir uns hier befinden, in einer Eigentümergemeinschaft, in der die Mehrzahl von uns sich nur geduldet fühlt, denn eigentlich sind wir nur lästig mit unseren Wohnproblemen und unserer physischen Gegenwart. Sogar wenn ich im Garten sitzen will, sagt die russische Violonistin und Komponistin zu mir, habe ich den Eindruck, dass ich um Erlaubnis bitten muss.

Montag, 14. Oktober 2013

Erinnerungen an Schmerzen


Beim Balancieren auf dem Metallgestänge am Spielplatz ausrutschen, mit gegrätschten Beinen auf der Stange landen. (Am Abend muss ich mich zum Pinkeln in eine Schüssel mit warmem Wasser setzen.)


Von den Spielkameraden absichtlich beim Spiel "Der Kaiser schickt seine Soldaten aus" fallen gelassen werden, so dass ich platt auf dem Boden lande und ein paar Sekunden lang keine Luft mehr bekomme, lange genug für ein bisschen Todesangst.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...