21:22
Ich habe die
Unruhe heute in den Knochen gespürt. Als würde etwas sich zuspitzen. Am Abend
dann saß ich im Teepavillon und las Nachrichten, während es draußen dunkel
wurde. Keine zuversichtliche Prognose - alles wird nur schlimmer. Und es gibt
immer noch so viele Menschen, die einfach keine Einsicht haben. Ich tastete
mich im Dunkeln nach Hause und bekam bald einen Risiko-Alert auf dem Handy. Ab
morgen früh um 6 Uhr Ausgangssperre. Auch wenn man zum Lebensmittelladen geht,
soll man seinen Ausweis dabei haben.
P erzählt von
einer Roma-Frau, die im Lebensmittelladen bei uns um die Ecke in Schweden plötzlich
anfing, wild zu husten. Alle erstarrten. Der Ladenbesitzer trat einen Schritt
zurück. Bist du krank? fragte er.
Fuhr zum
Container, um meinen Recycling-Müll wegzubringen, und wollte mir hinterher mal
das leerstehende Hotel anschauen, von dem P mir erzählt hatte. Es war wirklich
gespenstisch. Vielleicht vor dem Hintergrund der Corona-Krise noch mehr. In
einem Zimmer zerfressene Kissen und Bettwäsche. In der Küche Reste eines großen
verkrusteten Herds. Ein paar völlig verdreckte Teller auf dem Boden.
Eingeschlagene Fenster, Fensterrahmen, die schief in den Angeln hingen. Ich
ging vorsichtig durch die Eingangshalle. Als könnte der Fußboden unter mir
nachgeben und ich einfach in die Tiefe fallen. Dabei war es massiv. Im
Durchgang zu einem anderen Gebäude ist das Dach eingesackt. Die Terrasse ist
schief, weil überall Pflanzen durch die Ritzen zwischen den Steinplatten
gebrochen sind. Das Ganze war wie ein apokalyptischer Vorgeschmack darauf, wie
die Welt innerhalb kurzer Zeit aussehen wird, wenn die Menschen vom Erdboden getilgt sind.
Habe den dritten Krimi von Xioalong Qiu jetzt ausgelesen: "Die Frau
mit dem roten Herzen". Wieder weiß ich nicht genau, wer es jetzt
eigentlich war. Es gibt keine "Täter", nur Leute, die alle in
irgendwelche schmutzigen Geschäfte verwickelt sind. Darüber hinaus bekommt man
sehr viel Einblick in die chinesische Gesellschaft, die Literatur, die
Geschichte. Lud einen weiteren China-Krimi auf den Tolino.
Was mich selber
angeht, so sehe ich die Zeit hier als eine Chance. Lange habe ich von einem
extremen Retreat geträumt, noch auf dem Weg hierher. Immer wieder habe ich mich
antreiben lassen, von Terminen, äußeren Notwendigkeiten, von meiner
Rastlosigkeit und von eingebildeten Verpflichtungen. Vielleicht gelingt es mir,
diese Zeit als einen Umwandlungsprozess zu nutzen. Das Apartment ist jetzt
meine Höhle, und die Landschaft, die mich umgibt, ist mein Himalaya. Ich werde
herausfinden, wie wenig ich brauche, und vielleicht kann ich einige
Gewohnheiten und Verkrustungen abwerfen.
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