2020/04/27 20:28
Eine andere
Einstellung zu meinen Aufzeichnungen finden. Ich hechele nur den
"Ereignissen" hinterher, in einem ereignislosen Leben.
Erwachte aus
einem Traum heute morgen, nachdem ich wieder eingeschlafen war, obwohl draußen
schon die Sonne hell schien. Agnes war mit dem knallroten Anorak von P
weggelaufen. Er war irgendwie auf ihr gelandet, wie ein Schildkrötenpanzer. Ich
lief hinterher, einen Abhang hinunter, aber als ich ankam, sagte eine Frau, die
dort in einer Gruppe mit anderen Frauen stand, sie habe den Anorak schon an
einen Jungen gegeben, der ihn haben wollte, weil er (der Anorak) ja besitzerlos
war. Sie hatte aber Verständnis für meine Situation. Ich weiß nicht, wie und
warum, aber ich schlief neben ihr ein, so wie ich auch in meinem Bett
einschlief, von der Müdigkeit überwältigt, und hoffte auf irgendeine Lösung des
Problems, vielleicht darauf, dass der Junge wieder zurückkäme. Der Anorak kommt
aus Finnland, erzählte ich ihr noch, als tue das etwas zur Sache.
Beschloss am Wochenende,
das Bibliotheksbuch, das inzwischen schon über einen Monat verspätet ist (die
Bibliothek erlässt mir die Gebühren aber) mit der Post zurückzuschicken.
Gedichte von Mary Oliver. Ging also zum ersten Mal seit vier Wochen den Weg
hoch ins Dorf. Als ich die Postfiliale betrat, kam ich mir vor wie das Ereignis
des Tages, so herzlich empfangen wurde ich. Ich kaufte einen Briefumschlag
(fakelós), steckte das Buch (biblío) hinein und bezahlte dann horrende 14 Euro
für den Versand. Wie lange es dauern wird? Vier bis fünf Tage, sagte die Frau
hinter der Glasscheibe. Ich glaubte erst, sie sei dabei, "Wochen" zu
sagen. Der Brief von P ist immer noch nicht angekommen, ich habe keine Ahnung,
wie viele Wochen er jetzt schon unterwegs ist.
Das Traurige an
der Buch-Geschichte ist, dass ich die Gedichte nicht (oder kaum) gelesen habe.
Sie hätten eine innere Ruhe erfordert, die ich nicht gehabt habe. Jedes Mal,
wenn mein Blick darauf fiel, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Deshalb scheint
mir das Geld für das Porto dann doch eine gute Investition in meinen
Seelenfrieden zu sein. Eine Quittung bekam ich natürlich nicht, vergaß auch,
danach zu fragen.
Seit gestern gehe
ich jeden Tag einmal im Meer baden. Es ist gut, einen weiteren festen Termin zu
haben: Fünf Uhr nachmittags. Stelle das Fahrrad neben dem Hotel Delphinia ab
und laufe dann durch den Park zum Strand. Ein noch aus dem letzten Jahr wohlbekanntes
Ritual. Ziehe mich um und balanciere über die Steine ins frische Wasser hinein.
Gestern wie auch heute waren ein paar junge Leute da, die nebeneinander auf
ihren Badehandtüchern lagen. Ich blieb hinterher ein wenig auf einem Mäuerchen sitzen
und las in dem Roman "Die Carreta" von B.Traven. Eigentlich weniger
ein Roman als eine soziale Kampfschrift. Man wird wirklich vom Ekel gegen die
westliche Zivilisation erfasst, die auf Ungerechtigkeit, Brutalität, Verlogenheit,
Heuchelei gebaut ist.
Gestern widmete
ich viele Stunden der Aufnahme und hinterher dem entnervenden Hochladen von Tänzen
für den neuen Workshop. Zwischendurch geisterte ich auf dem leeren Seminargelände
herum, in Fenster spähend, Türen zu den leerstehenden Zimmern öffnend. Ich
betrat den Romawagen, in dem P und ich wohnten, als wir zum ersten Mal gemeinsam
hier waren. Die Tür stand weit offen, wegen Arbeiten im Badezimmer, sonst hätte
ich mich nicht getraut, hineinzugehen. Es gibt ein Foto von mir, mit dem
Akkordeon (und einer Schildmütze, die ich schmerzlich vermisse) auf der Treppe
sitzend. Prüfend machte ich ein paar Schritte im Labyrinth, hatte aber keine
Geduld, es ganz abzugehen, und kehrte wieder um. Ging dann die Treppe hinunter
zum Erdtempel, der auch offen war. Der große Bergkristall, der sonst immer in
der Mitte stand, ist noch in ein Geschirrtuch eingewickelt und liegt in einer
Kiste auf der Bank. Die Dachöffnung ist mit einer großen Plastikscheibe
bedeckt.
Wenn ich das Haus
putze, muss ich immer an Thoreaus Beschreibung denken, wie er in seiner Hütte
in Walden einmal in der Woche alles vor die Tür stellte und dann das Haus
ausfegte. Ungefähr so mache ich es auch und trage alle Möbelstücke, eins nach
dem anderen, auf die Terrasse. Außer dem allgemeinen Hausputz suche ich mir außerdem
jede Woche ein paar Stellen im Haus für
gründlichere Prozeduren aus. Dieses Mal bürstete ich die Fugen zwischen den
Fliesen mit Bikarbonat, putzte die Fenster mit Essig-Spülmittel-Wasser, staubte
das Regal ab, das über dem Bett entlangläuft. Die Bücher, die Teller, die
Bilder, die ganze lebendige, vielfältige Geschichte, die dieser Ort für uns
inzwischen angesammelt hat.
Heute Morgen, als
ich aufwachte, war ich mir plötzlich ganz klar des Augenblicks bewusst, hörte
das Singen der Vögel mit einer nie dagewesenen Klarheit. Es wurde so deutlich,
dass ich sonst jeden Augenblick mit Ungeduld erlebe, als eine Projektion auf
die Zukunft (oder die Vergangenheit).
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