Dienstag, 13. September 2016

Warten auf den Bus

Wieder einmal auf dem Weg nach Kastrup. Ich warte in der Hitze an der Bushaltestelle Södervärn. 

Auf dem Boden verstreute Zigarettenkippen und anderer nachlässig hingeworfener Alltagsmüll, wie platt getretene Kaffeebecher, Eispapier, Werbezettel, Gummihandschuhe und was noch alles.

Ein paar Schritte von mir entfernt steht eine blasse Frau mit schwarzen Thermohosen und einer alten Sportjacke, die einen ca zehn Zentimeter langen Riss über dem Schulterblatt hat. Heute ist es so heiß, dass man garantiert weder eine Thermohose noch eine Jacke braucht. Die meisten Leute haben so wenig Kleider wie nur möglich am Körper.

Je länger ich die Frau anschaue, desto mehr verstärkt sich der Eindruck der Verwahrlosung. Der Haarschnitt ist herausgewachsen, die lila Socken in den Sandalen sind abgeschabt, und der Rucksack ist ein billiges Werbegeschenk. An ihrem linken Arm hat sie eine gelbe Plastiktüte hängen, in den Händen hält sie eine Zehnerkarte für den Bus nach Kopenhagen, die sie hin- und her biegt, um die Perforierung zu lockern, so dass sie sich später leichter abreißen lässt.

Busse fahren heran, in einem nicht abreißenden Strom, Türen öffnen sich, Leute steigen aus, andere ein. Die meisten sind auf dem Weg zur Arbeit. Man sieht es an der Kleidung und an etwas in ihrem Blick.

Ein junger Mann mit einem gestreiften Sakko und einem blauen Melodica-Koffer mit der Aufschrift "Hohner" fällt mir auf. Ich wette mit mir, dass er in den Bus Nummer 8 einsteigen wird, der zur Musikhochschule fährt, und nach wenigen Minuten habe ich meine Wette gewonnen.

Der andere Reisende, der mit mir hier auf den Bus nach Kopenhagen wartet, ist ein älterer Mann mit geröteter Glatze und einer schlecht sitzenden Ray Ban Sonnenbrille. Auch er hält eine Zehnerkarte in den Händen, sechs Abschnitte sind schon abgerissen, auch er biegt die Karte an der Perforierung hin und her, um dem Busfahrer das Abreißen zu erleichtern.

Er hat ein schwarzes T-Shirt an, mit der Aufschrift "Africa" auf dem Ärmel und Cape North (?) auf der Vorderseite, genau da, wo die Wölbung seines Bauchs am größten ist, so dass ich die Aufschrift nicht lesen kann, ohne auf seinen Bauch zu starren. 

Ich kann sehen, dass er schwitzt, trotz seiner leichten Shorts aus grauem T-Shirt-Stoff, die eng anliegen und deren Seitennaht an einer Stelle von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten wird.

Ist dieser Bus oft so verspätet?, frage ich ihn. 

Nein, eigentlich nicht, antwortet er. Er redet in dem Dialekt der Stadt, der klingt, als wären die Worte schon vorgekaut, wenn sie endlich den Mund des Sprechenden verlassen. 

Vergessen Sie nicht, dem Busfahrer zu sagen, dass Sie am Flughafen aussteigen wollen, sagt er. Sonst fährt er vorbei. 

Die Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde, während der ich einen großen Teil dieses Textes in mein Tablet tippe.

Als ich in Kastrup aussteigen, gehe ich zuerst an der Frau mit der Thermohose vorbei, die jetzt in einem Taschenbuch liest, dessen Titel ich nicht sehen kann.

Der Mann mit der Glatze nickt mir von seinem Sitz aus zu, und ich nicke zurück. 

Montag, 5. September 2016

Skizzen zu einer Generation

Eigentlich, so sagte sie, sind wir die Generation Nichts.

Freiheit, sagte sie, war das Einzige, das für uns eine Rolle spielte. Von nichts wollten wir uns fangen lassen. Von keinem Beruf, keinem Ort, keinem Menschen, keiner Idee. Wir wollten uns nie in eine Schublade stecken lassen, wollten jederzeit aufbrechen können, uns neu definieren, von einem Tag auf den anderen unser Leben ändern, als hätte es das vorherige nicht gegeben.

Wir dachten lange, es sei unsere eigene Entscheidung, wir hielten uns für einzigartig, aber irgendwann ging uns auf, dass wir nur einer von vielen waren. Es war eine Massenverweigerung, oder ein Massenversuch. Wir wollten nie alt werden, nicht einmal erwachsen. Wir glaubten, dass wir ewig jung bleiben könnten. Aber es wurden uns auch keine Angebote zum Erwachsenwerden gemacht. Früh redete man uns ein, dass es zu viele von uns gab, dass es keinen Platz gab für uns, dass wir uns die meisten Berufe abschminken könnten, weil kein Bedarf für uns bestand. Die, die ein paar Jahre jünger waren, verstanden, dass sie besser sein müssten als andere, um Erfolg zu haben, aber wir waren noch erfüllt von einem Gerechtigkeitspathos, dem Unwillen, uns vorzudrängen. In der Schule ließen wir den Nachbarn in der Matheklausur abschreiben, an der Uni machten wir Gruppenreferate, und wir suchten uns immer Themen aus, die so wenig wie möglich mit beruflichen Möglichkeiten zu tun hatten. Wir wollten uns in der dünnen Luft der Freiheit einrichten, behaupteten, nicht viel zum Leben zu brauchen. Wir hatten kaum genug für uns selber, geschweige denn für die Gründung einer Familie. Geheiratet wurde nur heimlich und unter vollkommenem Verzicht auf jegliche Feierlichkeiten. Am liebsten in der Alltagskleidung, kurz nach der Arbeit, oder in der Mittagpause, und die einzigen geladenen Gäste waren die Trauzeugen auf dem Standesamt. Miteinander geschlafen hatte man schon jahrelang, vielleicht sogar ein Kind gezeugt. Man unterschrieb ein Papier, bezahlte fortan weniger Steuern und bildete sich ein, dass man so tun könnte, als hätte sich nichts geändert. Man könnte sich jederzeit wieder trennen. "Bis der Tod euch scheidet" war lachhaft, aber vor allem beängstigend.

Unsere Eltern hatten sich den Wohlstand hart erarbeitet, und wir setzten unseren Stolz daran, keinen Wohlstand zu brauchen. Es war selbstverständlich für uns, dass wir trotzdem alles hatten, was wir brauchten.

Wir lebten Leidenschaften, liebten das Drama des Verliebtseins, taten so, als seien wir gegen jeglichen Wunsch auf Dauer gefeit. Wir lehnten die Idee der Treue ab und warfen uns selber Schwäche vor, wenn wir plötzlich merkten, dass wir an jemandem "hingen". Wir wollten am liebsten alles aufgeben, vielleicht sogar unseren Namen, einen festen Wohnsitz. Irgendwie trieben wir durch das Leben. Wir hielten uns für moderne Nomaden, waren aber nur hilflos.

Das, worin unsere Eltern ihre Erfüllung gefunden hatten, die Stabilität der Familie, die finanzielle Sicherheit, die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs, erschien uns schlimmer als ein Gefängnis, ein lebendiger Tod, ein dumpfes Ausharren in Kompromissen, ein geistiges und gefühlsmäßiges Koma. Wir wollten uns ausschöpfen, so weit wie möglich. Wir wollten unsere Grenzen entdecken, spüren, dass wir lebten. Es fehlte uns ein grundlegendes Vertrauen in uns selber, wir waren misstrauisch gegenüber Deutschland, gegenüber jeder Art von Anständigkeit und Ordnung. Wir widmeten uns dem Körper, der Arbeit an unserem Körper. Wir entdeckten den Körper, die Signale, die er uns sandte, seine Versteifungen und Blockaden. Über den Körper wollten wir uns selber befreien. Ein Wort trat in unser Leben, dem wir sehr viel Aufmerksamkeit schenkten. Wir wollten "spüren", wie es uns ging. Statt einfach darüber hinweg zu gehen, wollten wir dem gegenüber aufmerksam sein, was in uns lebendig war.

                                                                     ***

Sonntag, 4. September 2016

Wieder mal ein Traum

Ich träumte, dass mein Vater noch am Leben sei. Er stand am Wohnzimmerschrank und holte seine Kreditkarte heraus, mit der ich in einem Restaurant eine Rechnung begleichen sollte, die meine Schwester vergessen hatte zu bezahlen. Die Geheimnummer schrieb er auf einen kleinen Zettel und ich steckte Karte und Zettel in die Gesäßtasche meiner Hose.

Es war zwar schön, dass mein Vater noch lebte, dass es ihm so viel besser ging als das letzte Mal, als ich ihn sah, aber der Gedanke, ich müsse seinen Tod jetzt noch einmal erleben, machte mir gleich wieder Angst.

Dann sollte ich in einem Krankenhaus etwas abholen, vielleicht Dinge, die meine Mutter dort gelassen hatte. Die Schwestern an der Informationstheke holten sehr viele Sachen hervor, ich lud sie in einen Leiterwagen, den sie auch hervorholten. Es waren Dinge, die ich selber zur Aufbewahrung ins Krankenhaus gebracht hatte, als ich wieder einmal umgezogen war.

Den Leiterwagen hinter mir herziehend, ging ich nun durch die Gänge des Krankenhauses. Ich begegnete einer jungen Frau, die ich kannte, wir redeten eine Weile, und ich fühlte ständig nach, ob die Kreditkarte noch in meiner Gesäßtasche sei, ob sie mir nicht herausgefallen sei, brachte es aber nicht fertig, sie irgendwo anders hinzustecken.

Der Traum war vielleicht eine Reaktion auf meinen Wunsch, mein Leben von nutzlosem Besitz zu befreien, Dinge loszulassen, wegzugeben. Auch in meinem wirklichen Leben tauchen an unerwarteten Ecken und Enden neue Dinge auf, die ich schon ganz vergessen hatte, und ich weiß nicht, was ich mit ihnen anstellen soll. Gestern sortierte ich die Schubladen unserer Kommode im Gartenhaus aus, ich fand massenweise Stoffservietten, vielleicht zwanzig oder sogar dreißig, davon solche, die wir wir nie benützt hatten, die ich nicht einmal gesehen hatte. Außerdem gehäkelte Deckchen, Vorhänge, die zu keinem unserer Fenster passen, fadenscheinige Handtücher, die schon ganz durchsichtig sind, wenn man sie gegen das Licht hält. Als ich sie in die Papiertüte steckte (die ich zu diesem Zweck reparierte), nahm ich schon die Auseinandersetzung mit P vorweg, ihr Argument, dass man nicht etwas wegwirft, das noch gut ist, ihre Klage, dass ich übertreibe (z.B. mit der Anzahl der Servietten, dem erbarmungswürdigen Zustand der Handtücher).

In unserem Leben spielen die Fahrradanhänger eine große Rolle, mit denen wir ständig Dinge hin-und hertransportieren. Es ist deshalb nicht seltsam, dass ich im Traum einen kleinen Leiterwagen hinter mir herzog.

Was die Kreditkarte meines Vaters bedeuten sollte (und meine Angst, sie zu verlieren), ist mir jedoch nicht klar.

Freitag, 20. Mai 2016

Die Übereinkunft

Frans und ich haben eine Übereinkunft getroffen. Nicht dass wir darüber gesprochen hätten. Es war, was man eine schweigende Übereinkunft nennt. Wir teilen unser Leben, aber wir haben nie miteinander zu tun, nicht physisch jedenfalls. Ich meine nicht das Körperliche, dass wir uns berührten, einander nahe kommen, dass wir uns in der Leidenschaft verlieren, einander hingeben. Diese Art der Begegnung gehört schon lange der Vergangenheit an, was Frans und mich betrifft. Was ich meine: Seit ein paar Jahren haben wir uns nicht gesehen, außer hin und wieder flüchtig und im Vorübergehen. Und trotzdem, so würde ich sagen, teilen wir ein Leben, wir haben zarte Gefühle füreinander, wir vermissen einander, schicken einander kleine Botschaften, sogar Liebesbeteuerungen. Wir sind ganz einfach zu dem Schluss gekommen, dass es uns besser geht, wenn wir uns nicht zu nahe sind, und  das war nicht das Ergebnis von langen Diskussionen oder einem Entschluss. Es war so, wurde so, es ergab sich so, wir haben es nie erwähnt, und doch leben wir danach.

Donnerstag, 19. Mai 2016

Stimmungstagebuch, vielleicht

12:05
Lese Richard Fords "Canada", und dann lese ich Lesermeinungen zum Buch, weil ich mich von dem Buch nicht trennen kann. Es gibt zwei Gruppen von Lesern: Die einen macht das Buch glücklich (dazu gehöre ich), die anderen halten es vor Langeweile kaum aus. Aber wenn man Ford vorwirft, dass er schon im ersten Satz das Geschehen vorwegnimmt, dann hat man vielleicht nicht wirklich verstanden, dass es Ford nicht um diese Art von billiger Spannung geht. 

12:11
Meine Kollegin M. sagt mir, das Brot, das ich gestern wegwarf, weil es während des Entfrostens des Gefrierschranks weich und schwammig geworden war, sei völlig neu gekauft gewesen, und Brot könne man immer ohne Probleme wieder einfrieren, auch wenn es schon mal aufgetaut gewesen ist, und ich übe mich in meiner neuen Kunst, nichts persönlich zu nehmen.

Ich schlafe so gut wie schon lange nicht mehr und finde das Leben ohne Katzen entspannend und angenehm. Endlich kann ich Sachen auf dem Bügelbrett ablegen, ohne dass ich hinterher das Bügebrett umgekippt auf dem Boden finde und alle Sachen rundherum auf dem Teppich verstreut. (Da ich weiss, dass es den Katzen in ihrer Sommerfrische gut geht, gibt es überhaupt keinen Grund, über ihre Abwesenheit traurig zu sein.)

13:06
Meine immer schwarz gekleidete Kollegin S. steht mit einem Kaffeebecher vor meinem Schreibtisch und sagt, dass sie eigentlich gegen allgemeine Geldeinsammlungen für Hochzeiten und Geburten ist. Sie redet eine Weile darum herum, bis sie es auf den Punkt bringt: sie lehnt die "Normativität" an, die in dieser Geste liegt.

14:03
Ein paar Meter von mir entfernt stehen zwei Kollegen im Gespräch. Sie unterhalten sich über Spanien. Eigentlich höre ich nur die Stimme des einen Kollegen, etwas schleppend und einschläfernd, langatmig alle Fakten und Ansichten reproduzierend, die er über Spanien in sich angesammelt hat. Die Kollegin bekräftigt seine Auslegungen mit eingeworfenen "Ahs" und "Hms", sie stellt manchmal eine höfliche Folgefrage, und sein eintöniges Reden fährt fort. "Du bist ja ein wahres Lexikon", höre ich meine Kollegin sagen, und ziehe daraus den Schluss, dass sie dabei ist, das Gespräch zu beenden. 

Donnerstag, 12. Mai 2016

Was ich eigentlich möchte

Eigentlich möchte ich nur ständig unterwegs sein und darüber schreiben, wie es ist, unterwegs zu sein.

Samstag, 7. Mai 2016

Die Schornsteinfegerin

Die Schornsteinfegerin: "Manchmal, wenn ich zu einem einsamen Haus komme auf meiner Tour, ist der Tisch gedeckt, ich werde empfangen wie ein sehnlichst erwarteter Gast, und man möchte mich gar nicht mehr weglassen."
In Schweden sind Schornsteinfeger keine Glücksbringer wie in Deutschland, aber um Weihnachten herum, so erzählt die Schornsteinfegerin, halten die Kinder sie oft für den Weihnachtsmann. Sie sagt dann, dass sie nicht der Weihnachtsmann ist, sondern den Schornstein nur für den Weihnachtsmann sauber macht, und das verstehen alle.

Freitag, 6. Mai 2016

Die Brust auf den Haaren

Abendspaziergang. Ein Stuhl mit gepolsterten Sitz vor der Kirche und ich wünsche mir, ich hätte die Kamera dabei.

Zwei Jugendliche zeigen ihre Gefühle füreinander, indem sie die Turnschuhe des anderen weit weg schleudern. Der übergewichtige Freund sitzt auf der Umrandung der Grünanlage, die Baseballkappe verkehrt herum aufgesetzt, und tut so, als fände er das Getue der anderen lustig.

Ein kleiner Junge fährt mit dem Fahrrad gegen den Kinderwagen, in dem sein kleines Geschwisterchen sitzt. Die Mutter will ihn gerade zurechtweisen, da fängt das Kleine nach einer kurzen Überraschungssekunde vor Vergnügen an zu krähen.

Eine junge Frau erzählt von ihrem "ersten" Krebs, was natürlich einen zweiten impliziert. Sie nimmt ihre Brustprothese aus dem BH und legt sie sich auf den Kopf. Das habe ein Freund von ihr nach ihrer Operation gemacht, mit dem Kommentar, "du hast Haare auf der Brust". Müsste es nicht umgekehrt heißen, denke ich, sage es aber nicht.

Donnerstag, 5. Mai 2016

In dem weißen Hotelzimmer

In dem weißen Hotelzimmer wird der Blick plötzlich klar: ohne Dinge sein!

Ich denke plötzlich an meinen Vater, der eigentlich nichts besaß, außer Kleidung, ein paar Stiften, den Ordner mit den Gedichten. Schon als Kind dachte ich oft, dass er kein Bedürfnis zu haben schien nach materiellen Dingen, dass er nie etwas für sich selber kaufte, sondern immer nur für uns, für die Familie, etwas Gemeinsames, das wir dann teilten.

Vor einigen Wochen schrieb ich: "Don't try to preserve yourself, your past life, your past dreams. Just do what you need to do. Now. Don't let the stuff keep yourself from moving on (inner and outer stuff)."

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Ich nehme an, er ist irgendwas zwischen siebzig und achtzig. Er geht mühsam. Er ist eine Legende in Schweden. In Japan verehrten sie in als Kriegergott. Er versucht uns alles mitzuteilen, was er über Aikido weiß, seine Reflexionen, seine Philosophie, aber die Zeit rennt ihm davon und immer wieder schaut er auf die Uhr und stößt einen Laut des Entsetzens aus. Am Rand der Matte hat er einen Stoß verknitterter Schaubilder abgelegt. Eines davon erläutert er, eine Sammlung von Strichen und Pfeilen, aber was er eigentlich sagen will, wird nicht ganz klar. Eine ganze Stunde lang stehen die zwei Helfer da, einen Stock zwischen sich, an dem eines der Schaubilder mit Wäscheklammern befestigt ist. Er hat ein Schwert in der einen und einen Kollegblock in der anderen Hand. Das Schwert ist eigentlich dazu gedacht, auf das Schaubild zu deuten, aber er benützt es nie. Es hindert ihn während der ganzen Stunde seines Vortrags nur daran, unbehindert im Kollegblock weiter zu blättern. Was ist Aikido? Wir halten einander an den Handgelenken fest. Wie war Ueshiba, der Gründer des Aikido, den er noch in Japan gekannt hat: Wie eine Verkehrsampel, mal grün, mal gelb, mal rot. Er bat einmal einen Japaner, ihm zu übersetzen, was Ueshiba so sagte, aber der Japaner sagte: Ich verstehe es auch nicht. Sitzt ihr manchmal am Küchentisch und bewegt eure Hände so? Natürlich. Und warum? Keiner antwortet. Seine Lösung: weil es sich gut anfühlt!

Blick aus dem Hotelzimmer

Ingeborg. Paul - Zuggedanken

Auf dem Weg nach Skellefteå. Der Zug sieht ganz anders aus als die südschwedischen Züge. Nordische Vibrationen. Innerlich zerbröselt. Verschämt. Eine Frau bestellt per Telefon ein Taxi. Auf den Namen "Eriksson".

Ein kleines Mädchen mit blonden Pippi-Zöpfen stand verloren neben ihrer Mutter, einer schmalen jungen Frau mit großen dunklen Augen, die selber verloren aussah auf dem bevölkerten Bahnsteig.

Die Taxifahrt heute: mein Schreck beim Blick auf den Taxometer. Der Nachmittagsstau und kein Vorankommen. Ich bat darum, aussteigen zu dürfen, war aber schon zu aufgeregt, um noch freundlich sein zu können zu dem Mann. Dann ein neuer Schreck, als ich merkte, wie weit ich noch vom Bahnhof weg war. Ich musste einen Bus nehmen, andauernd schaute ich auf die Uhr. Immer diese Eile, das Gefühl eines Mangels.

Las in der Zeit über die Liebesgeschichte zwischen Celan und Bachmann. Neue Briefe sind aufgetaucht, die ein neues Licht auf die Affäre werfen. Ernsthaft und eifrig kommentiert man sie, ordnet sie ein in den Lauf der Welt.

Ingeborg und Paul also. Beide starben dann im Abstand von wenigen Jahren einen seltsamen, tragischen Tod. Er hatte zwei Mordversuche an seiner Frau Gisèle hinter sich. Sie schrieb kein einziges Gedicht mehr.

Früher glaubte ich, Unglück sei erstrebenswert.

Briefe, Notizen, die nach Jahrzehnten auftauchen und Nachgeborene in Aufruhr versetzen. Wenn man solche Dokumente aufhebt, wünscht man sich dann, dass sie eines Tages entdeckt, begrüßt, gefeiert werden?

Ich las über das Glück. Als entgegengesetzt zu "pleasure", also dem, was wir als angenehm empfinden.

Ich muss mich nur auf den Weg machen, um wieder näher an mich heranzukommen.

Mittwoch, 20. April 2016

Bekenntnisse


Manchmal denke ich, ich sollte alles aufschreiben. Mein Leben, ganz einfach. Vielleicht habe ich so gelebt, wie ich gelebt habe, weil ich eines Tages etwas haben wollte, was ich aufschreiben konnte. Aber was? Ein ständiges Umherirren, die ständige Angst, eines Tages durch die Ritzen zu fallen, in der Gosse zu landen, völlig entblößt. Ein ständiger Widerstand, dieses Leben mit einem Druck auf der Brust, mal mehr, mal weniger. Die willentlich und unwillentlich herbeigeführten Dramen, Leidenschaft, die mich völlig verzehrte, zu einem Gespenst werden ließ.


Ich sehe in der Zeitung die Bilder der Flüchtlinge, die in Piräus Halt gemacht haben. Eine sechsköpfige Familie, die seit Wochen dort in einem Zelt campt. Die Frau hat Brustkrebs. Anfangs, so erzählt der Mann, sind wir alle drei Tage in ein Hotel gegangen (um uns zu duschen, Kleider zu waschen), aber jetzt haben wir kein Geld mehr.


An der Küste von Lesbos ist jetzt ein Steinmonument errichtet worden, ein Kreuz zur Erinnerung an die Menschen, die im Meer zwischen der Türkei und Griechenland ertrunken sind.


Das ist ein Verlorensein, eine Unsicherheit, die im Moment Tausende von Menschen teilen, und verglichen damit ist meine Lebensreise eine in Watte gepackte Reise gewesen. Immer wieder gehe ich durch die Stadt und denke, ich müsste die Menschen befragen, ich müsste mit ihnen reden, über ihr Leben, ihre Träume, ihre Enttäuschungen, aber ich bringe es nicht fertig, ich fahre dann doch an ihnen vorbei, ständig beschäftigt mit Kleinigkeiten meines Lebens.


Mein größter Schmerz, das Verlorensein zwischen den Sprachen und Kulturen, auch das teile ich mit so vielen Menschen. Diese Einsamkeit in einem Land, das sich in seiner selbst erdichteten Vortrefflichkeit genug ist. Erfolgsgeschichten sind Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, sich anzupassen. Die rumänische Bettlerin, die früher immer vor dem Einkaufszentrum saß, hat jetzt eine Stelle in diesem Einkaufszentrum bekommen, trägt jetzt die Uniform der Angestellten. Die Krankenschwester aus dem Iran beseitigt jetzt gemeinsam mit Langzeitarbeitslosen Gestrüpp in einem Naturschutzgebiet. Über ihrem Kopftuch trägt sie die Kappe der Waldarbeiter. "Ich lerne viel", zitiert man sie. Sie hat auch keine andere Wahl, alles andere würde ihr als Undankbarkeit ausgelegt.


Als ich vor zehn Jahren in dieses Haus zog, dachte ich, die Gegend würde mich inspirieren. Ich unternahm Versuche, über diese Gegend zu schreiben. Dann nahm mein Leben wieder überhand, fuhr über mich wie eine Woge, die Angst, der Schmerz, meine inneren Dämonen.


"Ich bin verrückt", es hilft mir manchmal, so zu denken. Mein Leben zu akzeptieren als das Leben von einer, die verrückt ist und nicht anders konnte.

Donnerstag, 25. Februar 2016

Big Mind

Erst als er aufstand und den Raum verließ, konnte man sehen, wie klein er war. Da sein Oberkörper außerdem ein wenig nach vorne gekrümmt war, reichte er mir nur bis zur Brust. Er sagte, wovor haben wir Angst? Vor dem Tod? Ich vertraue darauf, dass ich leben werde, sagte er. Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: Bis ich sterbe. Wie kann man sich am besten vor der Angst schützen? Indem man hinter sie tritt, sagte er und lächelte so, dass man einige Zahnlücken sah. Er sagte, bitte streiten Sie mit mir. Ich bin nicht hier, um Sie zu unterrichten. Ich bin hier, um etwas mit Ihnen zu teilen. Als ich todkrank war, sagte er, empfand ich keine Angst. Andere hatten Angst um mich. Aber ich lachte.

Mittwoch, 24. Februar 2016

Im Tagebuch gefunden

"Malmö ist eine Art Ausnahmezustand - es eignet sich vor allem dazu, dass man von dort wieder wegfährt." (2011)

Dienstag, 23. Februar 2016

Splitter aus dem Herzbuckelland



"Auf ein Bier" gehen - diese Art der zerstreuten, tratschenden Unterhaltung sagt mir nicht mehr zu, und das Bier tut mir auch nicht gut, ebensowenig die Nüsse, die ich manisch aus der kleinen Schale auf dem Tisch fische. "Einfach nur schreiben" fällt mir wieder schwer. Käse und Butter stehen noch neben dem Spülbecken - ich lasse sie da stehen, räume sie nicht weg. Das Fenster darf offen bleiben, es zieht kalt von dort her. Meine Schulter - die Gegend um das Schulterblatt: der Flügel, der nie gewachsen ist - quält mich, und ich lasse mich den ganzen Tag quälen, anstatt mich nur 5 Minuten auf den Rücken zu legen.


Der Wecker, der mich sanft wecken sollte, lässt mich aufschrecken, als ich die Helligkeit durch die Augenlider wahrnehme - habe ich in den Tag hineingeschlafen?


Wo willst du sein? Woanders, immer woanders. Nicht hier, in mir.

Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Frau mit dem dunkelblauen Rollkragenpullover

Ein paar Jahre später rief sie dann noch einmal an. Eine fremde Stimme antwortete ihr, stellte seltsame, gleichgültige Fragen. Sie trafen sich in München in einem griechischen Lokal. Die Leidenschaft war stumm, abgestumpft, es gab kaum etwas, worüber sie reden konnten. Sie dachte an den Morgen nach der ersten Nacht, die Busfahrt zum Flughafen im Morgengrauen und wieder zurück, Bs Kopf auf ihrer Schulter, der rosa Streifen am Himmel, die Telefonnummer, die in ihrer Hosentasche brannte, als sie zurück zum Hotel kam und die anderen Gäste im Frühstücksraum gleichmütig begrüßte. Der Tag war schwebend, wie durchsichtig, nach der schlaflosen Nacht.
Ein paar Wochen später fuhren sie mit dem Zug nach Venedig, wohnten in einer Pension auf dem Lido. 'Bin ich das wirklich gewesen', fragt sie sich jetzt. 'Auf dem Foto trage ich ein kariertes Flanellhemd, schwarze Männerschuhe, einen grünen Mantel mit Kapuze - ich erkenne mich gar nicht wieder. Später waren wir in Genua, aber nur kurz, da sie es dort nicht aushielt. Nicht einmal ein Restaurant konnten wir betreten: alles empfand sie als bedrohlich. Es gab so viele Dinge, die sie nicht ertrug. In Ravenna waren wir nur eine Nacht. Wir schauten uns die Mosaike nicht an, wegen denen wir eigentlich gekommen waren, weil sie so schnell wie möglich wieder von dort wegkommen wollte. Die Stadt sei dunkel, greife sie an. Es gibt ein Foto von ihr, das ich am Bahnhof einer kleinen Stadt von ihr machte: Sie saß auf einer Bank, den Kopf in den Kragen ihrer Lammfelljacke gezogen, schaute vor sich hin, ins Leere. Oft ging ich an den Abenden allein hinaus, stellte mich in einer Bar an die Theke, trank einen Kaffee oder ein kleines Glas Rotwein und malte mir aus, dass ich dort lebte, in einer Stadt in Italien. Ich war die Frau, die wenig sprach, die man überall grüsste, die mit einem dunkelblauen Rollkragenpullover durch die Straßen ging.'
Jetzt schaut sie nach ihrem Namen, gibt ihre Adresse ins Suchfeld ein, aber eine solche Person existiert nicht mehr in München, und andere, die den selben Namen haben, sind viel jünger, leben ausserdem ganz woanders. 'Sie schickte mich weg, sie war nicht die Erste und nicht die Letzte. Sie bestellte mir ein Taxi, und als ich mich darauf zuging, hielt dahinter ein zweites Taxi. Durch das Rückfenster sah ich, wie ihr Mann aus dem Taxi ausstieg und den Schlüssel aus seiner Jackentasche fischte. Ich hatte ihn nur auf Fotos gesehen, die sie mir gezeigt hatte. Ich weiss nicht, wie er hiess, sonst könnte ich nach ihm suchen, ich könnte ihn anrufen, nach ihr fragen, ich könnte sagen, 'ich bin eine Freundin, es ist aber schon lange her.'

Montag, 8. Februar 2016

Was vorkommen soll

Folgendes, so denke ich, soll vorkommen:

Mit Zeitungspapier verklebte Fenster.
Ein Schwarm von Fledermäusen, der in der Nacht durch das offene Fenster ins Zimmer fliegt.
Jemand, der in der Nacht ins Bett pinkelt.
Etwas das "süß" ist (putzig, liebenswert).
Ein tibetisches Kloster, das Thema des mehrjährigen Rückzugs.
Jemand, der eine blaue Windjacke trägt.
Die Sendung "Big Brother" und der Film "Aliens".
Ein Faltblatt in einer Kirche, auf dem das Leben einer Heiligen gerühmt wird.
Ein Imker (und Insekten im Allgemeinen).
Ein Spiegel, in dem man sein wahres Gesicht sehen kann.
Eine mit Fröschen übersäte Landstraße.
Eine große, mit Parfüm gefüllte Wasserpistole.
Eine neonfarbene Kirche aus Sperrholz, die in einem großen Raum im Kreis herumfährt.
Freundlichkeit.

Freitag, 5. Februar 2016

Aus den Augenwinkeln beobachtet

Der rumänische Bettler mit der Pelzmütze, der vor dem Supermarkt mit Schaufel und Besen ein bisschen sauber macht.

Montag, 1. Februar 2016

Ein weiteres Ritual (ohne Vorwarnung)



Ein weiteres wichtiges Ritual ist mein Morgenkaffee.

Ich mahle die Bohnen mit einer alten Handmühle, löffle den Kaffee aus dem Auffangschub in eine meiner Espressokannen, die ich schon mit Wasser gefüllt habe und dann zuschraube und auf den Herd stelle. Jeder Handgriff ist wichtig. Das zischende und gurgelnde Geräusch, wenn der Kaffee langsam durch das Rohr in die Kanne fließt, der Geruch, der sich in der Wohnung verbreitet (während ich andere Morgenhandgriffe mache), dieser wohlige, glückverheißende Morgengeruch. Dann wärme ich die Milch auf der abgeschalteten Herdplatte in einem stählernen Aufschäumer (bloß nicht wärmer als ca. 60 Grad Celsius!). Der Kaffeebecher, ein weißer hoher Becher ohne Henkel, ist schon ein wenig angeschlagen. Manchmal streue ich Kakao auf den fertigen Kaffee, manchmal Zimt, manchmal Kardamum aus meiner Kardamummühle.

Die Katze sitzt inzwischen schon auf dem Küchentisch und wartet auf ihre tägliche mikroskopische Milchportion (piepst dabei wie ein Vogel, ihr Milchbettel-Laut).

Der erste Schluck Kaffee, das Tasten der Zunge, die Abschätzung durch die Geschmacksknospen - wie ist er heute gelungen? -, die Kaffeewärme, die sich über die Speiseröhre und den Magen im ganzen Körper verbreitet, der kleine Anschubser, das Jubeln in irgendwelchen Regionen. Dieses Kaffeeglück.

Dienstag, 26. Januar 2016

["Breaking Bad" - nur mal so dahingedacht]

In den letzten Tagen habe ich mir täglich eine Folge der Serie "Breaking Bad" auf meiner kleinen Platte angesehen, und hinterher habe ich, aufgewühlt und beunruhigt, Zuschauerkommentare zur Serie im Internet nachgelesen. -
Meine Frage:
Woher kommt die Faszination, die von der Geschichte "Durchschnittsmann wird Drogenboss" ausgeht? Woher kommt die "Liebe" der männlichen Zuschauer zu dem teuflischen Walter White?
Dass die Figur des Walter White mit seinem Verhalten (als Ehemann, als Freund, als Krebskranker, als Berufstätiger, als Vater, als Heimwerker) dem weißen Durchschnittsmann einen Spiegel vor Augen hält, ist schwer zu übersehen. - Der weiße Durchschnittsmann als Zuschauer jedoch wird von dem, was er da sieht, nicht notwendig von Abscheu (und dem Wunsch nach Veränderung) ergriffen, sondern beginnt auf eine verdrehte Weise mit der Figur des abgedrifteten Chemielehrers zu sympathisieren. Die Serie entlarvt das grundsätzlich Gefühlsgestörte im weißen Durchschnittsmann, aber dieser ist aufgrund seiner Gefühlsgestörtheit nicht in der Lage, darüber zu erschrecken.
In dem System, das der weiße Durchschnittsmann geschaffen hat, gibt es immer Gewinner und Verlierer, und sein Kampf zielt in der Regel nicht darauf ab, das System wirklich zu verändern oder sich aus ihm zu verabschieden, sondern darauf, vom Verlierer zum Sieger des Systems zu werden - dazu wendet also immer die Mittel an, die dieses System für ihn bereithält.
In gewisser Weise zielt also diese Serie - trotz treffender Beobachtung - auch nicht wirklich auf Veränderung ab, sondern eher auf eine Art pervertierte Selbstbestätigung. Man kann als Zuschauer eine moralische Gänsehaut kriegen, ist aber erregt von der auf dem Bildschirm vorgelebten Möglichkeit, jeglicher Moral und Selbstbeschränkung den Rücken zu kehren.
Fazit: Der weiße Durchschnittsmann bleibt atemlos vor dem Fernseher hängen (so wie ich - und der weiße Durchschnittsmann in mir - auch, by the way) und lässt alles beim Alten.
Zweifel? Man kann im Internet einen "Heisenberg"-Hut und eine "Heisenberg"-Sonnenbrille bestellen.

 ***

"We are happy." (Walter White)

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PS: Ich bin mir bewusst, dass der Begriff "weißer Durchschnittsmann" eine unzulässige Verallgemeinerung darstellt, aber ich musste meinen Gedanken irgendwie in - wenn auch hölzerne - Worte kleiden. 

Sonntag, 24. Januar 2016

Als wir noch rauchten

Als wir noch rauchten, selbst gedreht natürlich, nicht, weil es billiger gewesen wäre, sondern weil es unser Einstellung zum Leben entsprach: der Tabakbeutel auf dem Tisch, das Zigarettenpapier, bloß keine Filter. Der ungefilterte, scharfe Rauch - unser Credo, unsere tägliche Widerstandshandlung.

Als wir noch spät aufstanden, endlos frühstückten, unsere Zigarettenstummel in leer gelöffelten Eierschalen ausdrückten. Das Ritual: den Tabak auf dem Zigarettenpapier verteilen, den Klebestreifen ablecken, die Zigarette geschickt zusammendrehen, die Tabakkrümel von der Zungenspitze und den Lippen spucken.

Als es uns noch jede Nacht hinaustrieb, in die verrauchten Kneipen, in denen es keinen Sitzplatz mehr gab. Als wir mit schmerzenden Lungen aufwachten, mit einem Haufen nach Rauch stinkender Kleider auf dem Fußboden, gequält vom Tageslicht, vom Morgenhusten. (Ein kurzer Augenblick des Zweifels, des Selbstekels, der Reue, bevor man sich wieder eine Zigarette ansteckte)

Das Rauchen war eine symbolische Handlung, es signalisierte die Abwehrhaltung gebenüber allem, was die Welt für uns bereithielt. Wir rauchten gegen die Betonisierung, gegen jeden Leistungsanspruch, jegliche Tauglichkeit. Wir rauchten gegen Tatsache, dass wir sterblich waren, dass wir altern würden, dass wir nicht ewig bis in den späten Vormittag hinein schlafen könnten, dass wir irgendwann einmal uns der "Wirklichkeit" würden stellen müssen.

Wir rauchten so, wie wir es in französischen Filmen gesehen hatten. Lebensverachtend und lebenshungrig zugleich. Selbstverliebt und ständig uns selber analysierend.

Die Wohnungen waren improvisiert, vorläufig, wir legten Matratzen auf den nackten Boden, stapelten unsere Bücher in Obstkisten, machten einen Küchentisch aus Böcken und einer ausrangierten Tür, schleppten Schränke die Treppe hoch, die wir auf dem Sperrmüll gefunden hatten, oder bauten unsere Möbel selbst (auch das nicht aus einer Heimwerker-Mentalität heraus, sondern als Zeichen der Verweigerung).

Wir saßen in Kneipen, die Tabakbeutel auf dem dunkelbraun lackierten Tisch, wir aßen kurz vor Mitternacht Berge von Spaghetti und dachten, wir könnten verhindern, dass wir irgendwann einmal zu der Welt gehören würden, die wir verachteten, die wir fürchteten, die uns bedrohte, die uns das wegnehmen wollte, was uns am Leben hielt: der trotzige Widerstand, der Tabakdunst, die Gedichte und die Musik und die Illusion, dieser Zustand könne ewig dauern. Bloß wie? Indem wir rauchten.

Montag, 11. Januar 2016

VOM GEFÜHL DES AUSGESPUCKTSEINS

Lief durch den Regen, wurde nass, usw., aber ich war froh, dass ich es endlich geschafft hatte, außer Haus zu gehen, da mich irgendetwas dort festhielt, nicht losgehen ließ, vielleicht diese fruchtlose Suche nach dem Schal, die Entdeckung eines Lochs in dem T-Shirt, das ich mitgenommen habe, eine Botanisierungstour durch die Schränke meiner Gastgeber, wobei mir beim Anprobieren eines Pullovers das eine Glas aus der Brille gesprungen ist - es ist mir aber zum Glück gelungen, es wieder hineinzupressen, nichts war kaputt (sonst hätte ich mich wirklich AUSGESPUCKT gefühlt - mit meiner Vergesslichkeit, der löchrigen Kleidung, allen Anzeichen von Alter, Ziel- und Mutlosigkeit etc.)

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...