"Sometimes there's so much beauty in the world I feel like I can't take it, like my heart's going to cave in." (Ricky Fitt in "American Beauty")
Donnerstag, 5. November 2015
Abendgedanken
"Ich kann nicht mehr." Mindestens einmal am Tag muss ich an diesen Satz denken, den mein Vater kurz vor seinem Tod gesagt hat, jedenfalls hat meine Mutter mir das so erzählt. Immer noch kann ich das Wort "Tod" nicht mit meinem Vater in Verbindung bringen, obwohl es mir "ganz in seiner Ordnung" zu sein scheint, dass für ihn die Anstrengung, die es am Ende für ihn bedeutete, am Leben zu sein, jetzt vorüber ist. Der Tod meines Vaters hat weniger Schmerz in mir ausgelöst als eine Ratlosigkeit, ein Gefühl der Leere und der Vergeblichkeit, eine sanfte Traurigkeit. Am Tag seiner Beerdigung, beim gemeinschaftlichen Kuchenessen und Kaffeetrinken, kam mir meine Mutter viel gelöster vor als bei ihrem Geburtstag wenige Monate zuvor, bei dem ich das Gefühl nicht losgeworden war, dass ich einer Beerdigung beiwohnte (die Vorwegnahme des Sterbens meines Vaters, die Angst vor einer Steigerung seines Leidens, der Anblick seines allmählichen Dahinschwindens, des allmählichen Verlusts seines Lebens, all das war mindestens so schmerzhaft wie sein tatsächliches Verschwinden). Als meine Mutter mir sagte, sie könne sich jetzt schon (nur zwei Wochen nach seinem Tod) nicht mehr an seine Stimme erinnern, schauten wir uns einen Film an, auf dem er, auf dem Hinterhof des Hauses in Görlitz stehend, in dem seine Großeltern eine Kohlenhandlung gehabt hatten, erklärte, wo in seiner Erinnerung damals die Eingänge gewesen waren. Er deutete hierhin und dahin, und meine Schwester und ich standen neben ihm und hörten zu, während mein Bruder die Kamera über den Hof schwenken ließ. Meine Mutter kommentierte die Jacke, die mein Vater auf dem Film trug und die er sehr geliebt hatte. Später gab sie mir aus seinem Kleiderschrank einen Wollpullover, ein langärmeliges T-Shirt und ein Paar Strümpfe, weil ich zu wenig warme Kleider dabei hatte. Die Strümpfe waren mir zu groß, aber der Wollpullover fühlte sich schnell an, als wäre er mein eigener. Schlaflos blätterte ich in der Nacht in dem Kalender, der auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer lag und in den er mit seiner genauen Schrift vor allem seine Arzttermine notiert hatte und am 14.November: "87. Geburtstag".
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