Mittwoch, 25. April 2012

Jemanden zu lieben

"Jemanden zu lieben war ein Wagnis, die Muschel öffnete ihre Schale, die Katze
legte sich auf den Rücken, man wollte dabei ungeschoren davonkommen. Man liebte
und wurde verletzlich, schon eine Stecknadel riss tiefe Wunden, man stülpte das
Innerste nach außen unter der Bedingung, dass der andere ebenso verletzlich war
wie man selbst. Schmerz wurde mit Schmerz vergolten, das war die Warnung, beide
mussten sich vor den Konsequenzen des Verrats im selben Maß fürchten.
Andernfalls war diese ungeheuerliche Entblößung des Herzens nicht zu
verantworten. Einseitigkeit war lebensgefährlich, hier ging es um ein exaktes
Gleichmaß der Schwäche. Und Liebe war nichts anderes als wunderbare, köstliche,
schreckliche Schwäche. Man wurde erpressbar, verführbar, war leicht zu
täuschen, hielt Augen für das Zentrum des Kosmos, und Worte kamen Organen
gleich, ohne die man nicht leben konnte. Übertreibung war das tägliche Brot,
Enttäuschung die Suppe, in die man das Brot tunkte. In etwas derartig
Verrücktes durfte man sich nicht hineinbegeben. Nur wenn beide verrückt waren,
verlor man nicht den Verstand."


Aus Linus Reichlin: "Er"

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