Freitag, 20. Mai 2016

Die Übereinkunft

Frans und ich haben eine Übereinkunft getroffen. Nicht dass wir darüber gesprochen hätten. Es war, was man eine schweigende Übereinkunft nennt. Wir teilen unser Leben, aber wir haben nie miteinander zu tun, nicht physisch jedenfalls. Ich meine nicht das Körperliche, dass wir uns berührten, einander nahe kommen, dass wir uns in der Leidenschaft verlieren, einander hingeben. Diese Art der Begegnung gehört schon lange der Vergangenheit an, was Frans und mich betrifft. Was ich meine: Seit ein paar Jahren haben wir uns nicht gesehen, außer hin und wieder flüchtig und im Vorübergehen. Und trotzdem, so würde ich sagen, teilen wir ein Leben, wir haben zarte Gefühle füreinander, wir vermissen einander, schicken einander kleine Botschaften, sogar Liebesbeteuerungen. Wir sind ganz einfach zu dem Schluss gekommen, dass es uns besser geht, wenn wir uns nicht zu nahe sind, und  das war nicht das Ergebnis von langen Diskussionen oder einem Entschluss. Es war so, wurde so, es ergab sich so, wir haben es nie erwähnt, und doch leben wir danach.

Donnerstag, 19. Mai 2016

Stimmungstagebuch, vielleicht

12:05
Lese Richard Fords "Canada", und dann lese ich Lesermeinungen zum Buch, weil ich mich von dem Buch nicht trennen kann. Es gibt zwei Gruppen von Lesern: Die einen macht das Buch glücklich (dazu gehöre ich), die anderen halten es vor Langeweile kaum aus. Aber wenn man Ford vorwirft, dass er schon im ersten Satz das Geschehen vorwegnimmt, dann hat man vielleicht nicht wirklich verstanden, dass es Ford nicht um diese Art von billiger Spannung geht. 

12:11
Meine Kollegin M. sagt mir, das Brot, das ich gestern wegwarf, weil es während des Entfrostens des Gefrierschranks weich und schwammig geworden war, sei völlig neu gekauft gewesen, und Brot könne man immer ohne Probleme wieder einfrieren, auch wenn es schon mal aufgetaut gewesen ist, und ich übe mich in meiner neuen Kunst, nichts persönlich zu nehmen.

Ich schlafe so gut wie schon lange nicht mehr und finde das Leben ohne Katzen entspannend und angenehm. Endlich kann ich Sachen auf dem Bügelbrett ablegen, ohne dass ich hinterher das Bügebrett umgekippt auf dem Boden finde und alle Sachen rundherum auf dem Teppich verstreut. (Da ich weiss, dass es den Katzen in ihrer Sommerfrische gut geht, gibt es überhaupt keinen Grund, über ihre Abwesenheit traurig zu sein.)

13:06
Meine immer schwarz gekleidete Kollegin S. steht mit einem Kaffeebecher vor meinem Schreibtisch und sagt, dass sie eigentlich gegen allgemeine Geldeinsammlungen für Hochzeiten und Geburten ist. Sie redet eine Weile darum herum, bis sie es auf den Punkt bringt: sie lehnt die "Normativität" an, die in dieser Geste liegt.

14:03
Ein paar Meter von mir entfernt stehen zwei Kollegen im Gespräch. Sie unterhalten sich über Spanien. Eigentlich höre ich nur die Stimme des einen Kollegen, etwas schleppend und einschläfernd, langatmig alle Fakten und Ansichten reproduzierend, die er über Spanien in sich angesammelt hat. Die Kollegin bekräftigt seine Auslegungen mit eingeworfenen "Ahs" und "Hms", sie stellt manchmal eine höfliche Folgefrage, und sein eintöniges Reden fährt fort. "Du bist ja ein wahres Lexikon", höre ich meine Kollegin sagen, und ziehe daraus den Schluss, dass sie dabei ist, das Gespräch zu beenden. 

Donnerstag, 12. Mai 2016

Was ich eigentlich möchte

Eigentlich möchte ich nur ständig unterwegs sein und darüber schreiben, wie es ist, unterwegs zu sein.

Samstag, 7. Mai 2016

Die Schornsteinfegerin

Die Schornsteinfegerin: "Manchmal, wenn ich zu einem einsamen Haus komme auf meiner Tour, ist der Tisch gedeckt, ich werde empfangen wie ein sehnlichst erwarteter Gast, und man möchte mich gar nicht mehr weglassen."
In Schweden sind Schornsteinfeger keine Glücksbringer wie in Deutschland, aber um Weihnachten herum, so erzählt die Schornsteinfegerin, halten die Kinder sie oft für den Weihnachtsmann. Sie sagt dann, dass sie nicht der Weihnachtsmann ist, sondern den Schornstein nur für den Weihnachtsmann sauber macht, und das verstehen alle.

Freitag, 6. Mai 2016

Die Brust auf den Haaren

Abendspaziergang. Ein Stuhl mit gepolsterten Sitz vor der Kirche und ich wünsche mir, ich hätte die Kamera dabei.

Zwei Jugendliche zeigen ihre Gefühle füreinander, indem sie die Turnschuhe des anderen weit weg schleudern. Der übergewichtige Freund sitzt auf der Umrandung der Grünanlage, die Baseballkappe verkehrt herum aufgesetzt, und tut so, als fände er das Getue der anderen lustig.

Ein kleiner Junge fährt mit dem Fahrrad gegen den Kinderwagen, in dem sein kleines Geschwisterchen sitzt. Die Mutter will ihn gerade zurechtweisen, da fängt das Kleine nach einer kurzen Überraschungssekunde vor Vergnügen an zu krähen.

Eine junge Frau erzählt von ihrem "ersten" Krebs, was natürlich einen zweiten impliziert. Sie nimmt ihre Brustprothese aus dem BH und legt sie sich auf den Kopf. Das habe ein Freund von ihr nach ihrer Operation gemacht, mit dem Kommentar, "du hast Haare auf der Brust". Müsste es nicht umgekehrt heißen, denke ich, sage es aber nicht.

Donnerstag, 5. Mai 2016

In dem weißen Hotelzimmer

In dem weißen Hotelzimmer wird der Blick plötzlich klar: ohne Dinge sein!

Ich denke plötzlich an meinen Vater, der eigentlich nichts besaß, außer Kleidung, ein paar Stiften, den Ordner mit den Gedichten. Schon als Kind dachte ich oft, dass er kein Bedürfnis zu haben schien nach materiellen Dingen, dass er nie etwas für sich selber kaufte, sondern immer nur für uns, für die Familie, etwas Gemeinsames, das wir dann teilten.

Vor einigen Wochen schrieb ich: "Don't try to preserve yourself, your past life, your past dreams. Just do what you need to do. Now. Don't let the stuff keep yourself from moving on (inner and outer stuff)."

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Ich nehme an, er ist irgendwas zwischen siebzig und achtzig. Er geht mühsam. Er ist eine Legende in Schweden. In Japan verehrten sie in als Kriegergott. Er versucht uns alles mitzuteilen, was er über Aikido weiß, seine Reflexionen, seine Philosophie, aber die Zeit rennt ihm davon und immer wieder schaut er auf die Uhr und stößt einen Laut des Entsetzens aus. Am Rand der Matte hat er einen Stoß verknitterter Schaubilder abgelegt. Eines davon erläutert er, eine Sammlung von Strichen und Pfeilen, aber was er eigentlich sagen will, wird nicht ganz klar. Eine ganze Stunde lang stehen die zwei Helfer da, einen Stock zwischen sich, an dem eines der Schaubilder mit Wäscheklammern befestigt ist. Er hat ein Schwert in der einen und einen Kollegblock in der anderen Hand. Das Schwert ist eigentlich dazu gedacht, auf das Schaubild zu deuten, aber er benützt es nie. Es hindert ihn während der ganzen Stunde seines Vortrags nur daran, unbehindert im Kollegblock weiter zu blättern. Was ist Aikido? Wir halten einander an den Handgelenken fest. Wie war Ueshiba, der Gründer des Aikido, den er noch in Japan gekannt hat: Wie eine Verkehrsampel, mal grün, mal gelb, mal rot. Er bat einmal einen Japaner, ihm zu übersetzen, was Ueshiba so sagte, aber der Japaner sagte: Ich verstehe es auch nicht. Sitzt ihr manchmal am Küchentisch und bewegt eure Hände so? Natürlich. Und warum? Keiner antwortet. Seine Lösung: weil es sich gut anfühlt!

Blick aus dem Hotelzimmer

Ingeborg. Paul - Zuggedanken

Auf dem Weg nach Skellefteå. Der Zug sieht ganz anders aus als die südschwedischen Züge. Nordische Vibrationen. Innerlich zerbröselt. Verschämt. Eine Frau bestellt per Telefon ein Taxi. Auf den Namen "Eriksson".

Ein kleines Mädchen mit blonden Pippi-Zöpfen stand verloren neben ihrer Mutter, einer schmalen jungen Frau mit großen dunklen Augen, die selber verloren aussah auf dem bevölkerten Bahnsteig.

Die Taxifahrt heute: mein Schreck beim Blick auf den Taxometer. Der Nachmittagsstau und kein Vorankommen. Ich bat darum, aussteigen zu dürfen, war aber schon zu aufgeregt, um noch freundlich sein zu können zu dem Mann. Dann ein neuer Schreck, als ich merkte, wie weit ich noch vom Bahnhof weg war. Ich musste einen Bus nehmen, andauernd schaute ich auf die Uhr. Immer diese Eile, das Gefühl eines Mangels.

Las in der Zeit über die Liebesgeschichte zwischen Celan und Bachmann. Neue Briefe sind aufgetaucht, die ein neues Licht auf die Affäre werfen. Ernsthaft und eifrig kommentiert man sie, ordnet sie ein in den Lauf der Welt.

Ingeborg und Paul also. Beide starben dann im Abstand von wenigen Jahren einen seltsamen, tragischen Tod. Er hatte zwei Mordversuche an seiner Frau Gisèle hinter sich. Sie schrieb kein einziges Gedicht mehr.

Früher glaubte ich, Unglück sei erstrebenswert.

Briefe, Notizen, die nach Jahrzehnten auftauchen und Nachgeborene in Aufruhr versetzen. Wenn man solche Dokumente aufhebt, wünscht man sich dann, dass sie eines Tages entdeckt, begrüßt, gefeiert werden?

Ich las über das Glück. Als entgegengesetzt zu "pleasure", also dem, was wir als angenehm empfinden.

Ich muss mich nur auf den Weg machen, um wieder näher an mich heranzukommen.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...