Mittwoch, 20. April 2016

Bekenntnisse


Manchmal denke ich, ich sollte alles aufschreiben. Mein Leben, ganz einfach. Vielleicht habe ich so gelebt, wie ich gelebt habe, weil ich eines Tages etwas haben wollte, was ich aufschreiben konnte. Aber was? Ein ständiges Umherirren, die ständige Angst, eines Tages durch die Ritzen zu fallen, in der Gosse zu landen, völlig entblößt. Ein ständiger Widerstand, dieses Leben mit einem Druck auf der Brust, mal mehr, mal weniger. Die willentlich und unwillentlich herbeigeführten Dramen, Leidenschaft, die mich völlig verzehrte, zu einem Gespenst werden ließ.


Ich sehe in der Zeitung die Bilder der Flüchtlinge, die in Piräus Halt gemacht haben. Eine sechsköpfige Familie, die seit Wochen dort in einem Zelt campt. Die Frau hat Brustkrebs. Anfangs, so erzählt der Mann, sind wir alle drei Tage in ein Hotel gegangen (um uns zu duschen, Kleider zu waschen), aber jetzt haben wir kein Geld mehr.


An der Küste von Lesbos ist jetzt ein Steinmonument errichtet worden, ein Kreuz zur Erinnerung an die Menschen, die im Meer zwischen der Türkei und Griechenland ertrunken sind.


Das ist ein Verlorensein, eine Unsicherheit, die im Moment Tausende von Menschen teilen, und verglichen damit ist meine Lebensreise eine in Watte gepackte Reise gewesen. Immer wieder gehe ich durch die Stadt und denke, ich müsste die Menschen befragen, ich müsste mit ihnen reden, über ihr Leben, ihre Träume, ihre Enttäuschungen, aber ich bringe es nicht fertig, ich fahre dann doch an ihnen vorbei, ständig beschäftigt mit Kleinigkeiten meines Lebens.


Mein größter Schmerz, das Verlorensein zwischen den Sprachen und Kulturen, auch das teile ich mit so vielen Menschen. Diese Einsamkeit in einem Land, das sich in seiner selbst erdichteten Vortrefflichkeit genug ist. Erfolgsgeschichten sind Geschichten von Menschen, die es geschafft haben, sich anzupassen. Die rumänische Bettlerin, die früher immer vor dem Einkaufszentrum saß, hat jetzt eine Stelle in diesem Einkaufszentrum bekommen, trägt jetzt die Uniform der Angestellten. Die Krankenschwester aus dem Iran beseitigt jetzt gemeinsam mit Langzeitarbeitslosen Gestrüpp in einem Naturschutzgebiet. Über ihrem Kopftuch trägt sie die Kappe der Waldarbeiter. "Ich lerne viel", zitiert man sie. Sie hat auch keine andere Wahl, alles andere würde ihr als Undankbarkeit ausgelegt.


Als ich vor zehn Jahren in dieses Haus zog, dachte ich, die Gegend würde mich inspirieren. Ich unternahm Versuche, über diese Gegend zu schreiben. Dann nahm mein Leben wieder überhand, fuhr über mich wie eine Woge, die Angst, der Schmerz, meine inneren Dämonen.


"Ich bin verrückt", es hilft mir manchmal, so zu denken. Mein Leben zu akzeptieren als das Leben von einer, die verrückt ist und nicht anders konnte.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...