Sonntag, 8. November 2015

Eine Sache, die in dich eindringt

Las heute Svetlana Alexijewitsch: Tschernobyl.

"Mit Tschernobyl hat der Mensch die Hand erhoben gegen alles, gegen die gesamte göttliche Welt, auf der außer dem Menschen Tausende anderer Wesen leben. Tiere und Pflanzen.Wenn ich zu ihnen kam... Ich hörte ihre Berichte, wie sie (als erste und zum ersten Mal!) etwas völlig Neues, Unmenschliches taten: Sie begruben die Erde in der Erde, das heißt, sie versenkten verseuchte Erdschichten in speziellen Betonbunkern, mitsamt allem, was darin lebte: Käfer, Spinnen, Larven. Vielfältige Insekten, deren Namen sie nicht einmal kannten. Nicht mehr wußten. Sie hatten einen ganz anderen Begriff vom Tod, er erstreckte sich auf alles - vom Vogel bis zum Schmetterling."

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Und was hast du selber am 26.April 1986 gemacht?

Ich saß in einem Biergarten in der Nähe der Uni in Berlin und als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, schrie mir mein Mitbewohner Oskar entgegen, ich solle sofort meine Schuhe mit dem Putzlappen abwischen, den er zu diesem Zweck in den Eingang gelegt hatte.

Irgendjemand kaufte in den nächsten Tagen säckeweise Trockenerbsen und Reis.

Es ging plötzlich nicht mehr, unbeschwert auf dem Balkon zu sitzen. Wenn man in der Stadt in einen Regen geriet, suchte man sofort einen schützenden Mauervorsprung auf. Aber wir dachten nicht wirklich an die Menschen dort, an dem Ort, an dem das Unglück geschehen war, wir dachten hauptsächlich an uns selber und den Cäsiumgehalt der Milch, die wir tranken.

Es war alles völlig ungreifbar und unakzeptabel. Keine Waldbeeren mehr sammeln, keine Pilze, und zwar hundert, tausend Jahre lang. Wie giftig ist die Erde, die Luft, die wir atmen? Mütter, die sich das leisten konnten, fuhren mit ihren kleinen Kindern nach Lanzarote, um sie dort vor der unsichtbaren Strahlung zu schützen. Tschernobyl verebbte in uns, verharmloste, tauchte manchmal wieder auf in gespenstischen Bilden eines entvölkerten Orts. Aber die Menschen, die Menschen...?




Samstag, 7. November 2015

Eigentlich denke ich fast ständig an die Stadt


Am Abend noch mal den Schmerz des Tages Revue passieren lassen:

Ich weiß nicht mehr, wo ich anfangen soll: Bei der Fahrt mit dem Fahrrad durch die regendunkle Stadt? Bei den Ochsenmedaillons, die ich im Fleischwolf in Hackfleisch verwandelte, dem Fleischsaft, dem Blutsaft, dem grauen ausgespuckten Fleisch in der Katzenschale? Bei dem Konzertsaal, in dem die Farbe der Wände sich änderte, von rot zu blau zu grün zu einer Art Schneegestöber aus schwarz und weiß? Bei den hochhackigen schwarzen Stiefeln der Akkordeonistin, die von ihrer karelischen Großmutter erzählte, bei der Falte zwischen ihren Augenbrauen, bei meiner plötzlichen, mir beinah den Atem nehmenden Sehnsucht nach Finnland? Bei den drei jungen Schwedinnen in ihren bunten Sackkleidern, die ein chinesisches Lied spielten, das vom Sommer handelte? Die eine nahm aus einer Plastikflasche einen Schluck Mineralwasser, legte den Kopf in den Nacken und gurgelte ins Mikrofon, was im Loop klang wie ein sprudelnder Gebirgsbach.

"Wie heißt du?", fragte ich. Ich war von hinten an ihn herangetreten und hatte ihm beide Hände auf die Schultern gelegt.
"Anton."
Beim Lächeln zeigte sich eine kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen.

Es stürmte beinahe, als ich wieder nach Hause fuhr. Eigentlich denke ich fast ständig an die Stadt.


Donnerstag, 5. November 2015

Abendgedanken

"Ich kann nicht mehr." Mindestens einmal am Tag muss ich an diesen Satz denken, den mein Vater kurz vor seinem Tod gesagt hat, jedenfalls hat meine Mutter mir das so erzählt. Immer noch kann ich das Wort "Tod" nicht mit meinem Vater in Verbindung bringen, obwohl es mir "ganz in seiner Ordnung" zu sein scheint, dass für ihn die Anstrengung, die es am Ende für ihn bedeutete, am Leben zu sein, jetzt vorüber ist. Der Tod meines Vaters hat weniger Schmerz in mir ausgelöst als eine Ratlosigkeit, ein Gefühl der Leere und der Vergeblichkeit, eine sanfte Traurigkeit. Am Tag seiner Beerdigung, beim gemeinschaftlichen Kuchenessen und Kaffeetrinken, kam mir meine Mutter viel gelöster vor als bei ihrem Geburtstag wenige Monate zuvor, bei dem ich das Gefühl nicht losgeworden war, dass ich einer Beerdigung beiwohnte (die Vorwegnahme des Sterbens meines Vaters, die Angst vor einer Steigerung seines Leidens, der Anblick seines allmählichen Dahinschwindens, des allmählichen Verlusts seines Lebens, all das war mindestens so schmerzhaft wie sein tatsächliches Verschwinden). Als meine Mutter mir sagte, sie könne sich jetzt schon (nur zwei Wochen nach seinem Tod) nicht mehr an seine Stimme erinnern, schauten wir uns einen Film an, auf dem er, auf dem Hinterhof des Hauses in Görlitz stehend, in dem seine Großeltern eine Kohlenhandlung gehabt hatten, erklärte, wo in seiner Erinnerung damals die Eingänge gewesen waren. Er deutete hierhin und dahin, und meine Schwester und ich standen neben ihm und hörten zu, während mein Bruder die Kamera über den Hof schwenken ließ. Meine Mutter kommentierte die Jacke, die mein Vater auf dem Film trug und die er sehr geliebt hatte. Später gab sie mir aus seinem Kleiderschrank einen Wollpullover, ein langärmeliges T-Shirt und ein Paar Strümpfe, weil ich zu wenig warme Kleider dabei hatte. Die Strümpfe waren mir zu groß, aber der Wollpullover fühlte sich schnell an, als wäre er mein eigener. Schlaflos blätterte ich in der Nacht in dem Kalender, der auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer lag und in den er mit seiner genauen Schrift vor allem seine Arzttermine notiert hatte und am 14.November: "87. Geburtstag".

Mittwoch, 4. November 2015

Sich über sich selber wundern

Ich höre nur noch selten Musik und habe jetzt öfter das Radio an als früher. Nur noch selten komme ich mit einem Stapel CDs aus der Bibliothek nach Hause, die ich dann auf irgendwelche anderen Geräte kopiere (worauf ich die Tonträger säuberlich beschrifte). Ich möchte mich interessant (extravagant) kleiden, wähle aber eigentlich immer praktische Kleidung, die ich meistens Second Hand gekauft habe, teilweise aus Lust am Zufall, aber auch (und nicht zuletzt) aus Geldmangel oder weil ich keine Lust habe, nur wegen Kleidung mehr arbeiten zu müssen. Ich habe immer versucht, nur so viel Geld zu verdienen, wie ich unbedingt zum Leben brauche, aber ich habe oft Angst gehabt, dass mir mein Geld nicht reichen oder eines Tages ausgehen wird. Momentan habe ich wieder die Angst, dass das Geld mir ausgehen wird und dass ich dann nicht mehr weiß, wovon ich leben kann. (Diese Sorge scheint übrigens, ganz unabhängig von der Höhe des Einkommens, in unserer Familie - auf der väterlichen Seite - erblich zu sein, so dass ich eigentlich aufhören könnte, mir vorzustellen, wie leicht mein Leben wäre, wenn ich mehr Geld hätte.)

Montag, 2. November 2015

Lilleman

Er sagte, ich solle einen "Lilleman" nehmen, um die Tomatensoße auf dem Pizzaboden zu verteilen (oder einen Gumischaber). Ich sah ihn fragend an. Was ist ein Lilleman? Wie lange bist du schon in Schweden, fragte er, und du weißt nicht was ein Lilleman ist?
Er erklärte mir, ein Lilleman sei ein Messer zum Broteschmieren, mit Holzgriff und Metallklinge. Nie gehört, sagte ich, ein Antrag auf Staatsbürgerschaft würde wahrscheinlich sofort abgelehnt. Aber ehrlich gesagt juckt mich das nicht die Bohne, sagte ich. Ich war sauer auf ihn, weil er sich wegen dem "Lilleman" so aufspielte. Ich nahm einen Gummischaber und verteilte die Tomatensoße auf dem Pizzaboden.
Am nächsten Tag fragte ich P, ob sie wisse, was ein Lilleman sei. Nie gehört! Sie sagte, das sei wahrscheinlich ein regionaler Ausdruck, der aus dem kleinen Kaff in Småland komme, in dem L aufgewachsen ist. Oder etwas, das man in seiner Familie so sagte. Ich muss ihm das erzählen, sagte ich, dass du auch nicht weißt, was ein Lilleman ist, mit deinem Literaturstudium und deinen vielen Büchern und beinah einem Doktortitel.
P weiß auch nicht, was ein Lilleman ist, erzählte ich ihm triumphierend, als ich ihn das nächste Mal sah. Wir vermuten jetzt, dass das ein regionaler Ausdruck ist oder etwas, das man nur in deiner Familie sagt.
Er sagte aufgebracht (ich weiß nicht, ob er es nur spielte), dass das ein allgemeiner Begriff ist und dass die Tatsache, dass P ihn nicht kennt, gar nichts bedeutet. P lebt in ihrer eigenen (kleinen) Welt, das müsstest du selbst gut wissen. Ich dachte ein wenig über diese komische Bemerkung nach, ließ es aber bleiben, darauf damit zu antworten, dass ich fände, Ps Welt sei um einiges größer als seine. Ich glaube, ich frage ein wenig in meinem Bekanntschaftskreis herum, sagte ich. Ich sagte, das (die "Lilleman"-Frage) sei interessant", er hörte aber "inte sant" (nicht wahr) und regte sich gleich wieder ein bisschen auf (oder tat nur so), und dann sagte er, es käme natürlich auf meinen Bekanntschaftskreis an, und das hörte sich für mich wieder so an wie eine subtile Kritik.
Später am Abend saßen wir gemeinsam vor dem Fernseher und ich googelte ein wenig herum. Ich fragte ihn, ob ich ihm vorlesen dürfte, was ich gefunden hatte. Er lag auf seinem Sofa und surfte selber auf dem Telefon herum. Am Fernsehen lief eine Serie, die "Solsidan" heißt (Sonnenseite) und die er unterhaltsam fand (sie handelt von schwedischen Ehepaaren in einem reichen Villenvorort von Stockholm), ich aber fand sie deprimierend.
Die "Lilleman"-Frage ("Handelt es sich bei "Lilleman" um einen geläufigen Begriff oder um einen regionalen bzw. auf eine Familie beschränkten?") war auch im Internet zu finden, und als ich ihm einige Auszüge von Diskussionsseiten und Blogs vorgelesen hatte, in denen Schweden die Frage aufwarfen, andere antworteten, sie hätten den Begriff nie gehört und so weiter und so fort, sagte er, er habe es jetzt kapiert und lachte.
(Die Pointe: Ich brauche jetzt unbedingt einen Lilleman, denn meine Recherche hat mich darauf gebracht, dass es sich dabei um ein völlig unentbehrliches Haushaltsutensil handelt!)


Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...