Donnerstag, 26. Dezember 2013

Berlin in schwarzweiß

Als ich 23jährig nach Berlin kam, war ich unentschieden, ob ich mich dem Studium widmen sollte oder dem Schreiben. Einmal brach ich das Studium ab und begann in einer Großküche zu jobben, ging aber im nächsten Semester an die Universität zurück. Ich konnte meine Kräfte nie voll auf das richten, was ich tat, war immer abgelenkt, andauernd mit Flucht beschäftigt. Ich lebte in einem anhaltenden "Nein" oder "Vielleicht", einer komischen Denkschleife, in der ich nicht weiterkam. Das Große, von dem ich dachte, dass es auf mich wartete, gab sich nicht zu erkennen. Das, was ich mir wünschte, brachte ich nicht fertig. Immer noch fühlte ich mich wie ein nicht ausgebrütetes Ei, im Warten begriffen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals schrieb oder was es war. Ich drückte mich in Papierläden herum, kaufte große Papierbögen, Stifte, Schreibbücher, setzte mich damit in die Universitätsbibliothek, aber nichts von dem, was ich eventuell schrieb, ist heute übrig. In meinem Körper war ich nicht zu Hause, und es fiel mir schwer, Kleidung zu finden, in der ich mich wohlfühlte. Ich versteckte mich. An meine Wohnungstür hängte ich ein Schild mit der Aufschrift "Dr. Franz Kafka".

Mittwoch, 25. Dezember 2013

Ein Traum vom Schreiben

Ich wachte in der Nacht um 3 Uhr auf, hatte Angst, dass ich nicht wieder einschlafen könnte, legte mir wieder die Hände auf das Herz, auf den Bauch. Schlief dann, träumte, dass ich in einem Kurs etwas schreiben sollte, einen Text über meine Kindheit (Kurs unter der Leitung von S und J), dass ich aber keine Ruhe fand, ständig mit dem Computer umzog, obwohl ich eigentlich überzeugt davon war, dass mein Text ganz außerordentlich werden würde und dass es außerdem überhaupt kein Problem für mich wäre, ihn in der vorgegebenen Zeit zu schreiben. Je weiter der Traum fortschritt, desto sicherer schien es jedoch, dass ich den Text nie abschließen, vielleicht nie damit anfangen würde, während alle anderen meiner Kurskameraden ihre Texte schon geschrieben hatten, mit weniger Widerstand, weniger Ehrgeiz, weniger Überzeugung von ihrer eigenen Vortrefflichkeit.

Die Geschichten der Mutter, erzählt am Weihnachtsabend.


1. Wir (meine Schwester und ich) hätten sie geärgert, irgendwann vor vielleicht 35 Jahren. Ständig hatten wir etwas an ihr auszusetzen. Sie fuhr mit dem Auto weg, wollte ein paar Tage in Nürnberg verbringen, sich dort ein Zimmer nehmen, so dass wir merken würden, wie es sich anfühlte, ohne sie zu sein. Auf der Autobahn fing das Auto an zu stottern und sie brachte es in eine Werkstatt. Sie musste das Auto dalassen und mit dem Zug nach Hause fahren. Die Frau des Automechanikers brachte sie (mit Lockenwicklern) zum Bahnhof. Meine Mutter setzte sich zumindestens noch kurz in das Bahnhofscafé, um die Zeit hinauszuzögern, bevor sie mit dem Zug nach Hause fuhr. Mein Vater öffnete ihr die Wohnungstür. Sie ging in die Küche, wo wir (meine Schwester und ich) saßen. Angeblich sagten wir (zueinander), kalt, böse: "Da ist sie wieder." Keine Umarmung, kein "Endlich-bist-du-wieder-zuhause-wir-haben-uns-solche-Sorgen-gemacht".


2. Sie beneidete ihre Klassenkameradin Gertie, die als Einzige der alten Freundinnen keine Kinder hatte, um ihre Freiheit. Stellte sich das Leben ohne Kinder schön vor, sorgenlos, ohne Ärger. "Aber jetzt", sagt sie, "wenn ich Gertie sehe, dann denke ich, was für ein armes Leben." (Ich hörte als Kind und junge Frau immer nur die Kummer-, Ärger-, Sorgenversion, die Version des versäumten Lebens, der Unfreiheit, der ständigen Reue, also beschloss ich, nicht in dieses Karussell einzusteigen, sondern ein familienfreies Leben zu führen, ich ahnte wohl auch, dass ich mich mit dieser Geschichte im Gepäck nicht zur "Glücklichen Mutter" eigne).Tatsächlich habe ich mein Leben auch nicht eine Sekunde lang als arm empfunden, bin ich im Gegenteil oft froh gewesen um dieses kühle, atemberaubende Alleinsein, die Möglichkeit zum ständigen Experiment.


3. Als meine zwei Jahre ältere Schwester in die Schule kam, lernte ich mit ihr. Eines Tages kam ich, vierjährig, mit einem Bilderbuch zu meiner Mutter und las ihr daraus vor. Meine Mutter glaubte zuerst, ich hätte das Buch auswendig gelernt und brachte mir ein anderes Buch, aus dem ich ihr auch vorlesen konnte. Zu dieser Geschichte gehört die Fortsetzungsgeschichte "Bei der Schulärztin". Klein und zart für mein Alter und die Jüngste in der Klasse, sagte die Schulärztin bei der Untersuchung, bei der die Schulreife festgestellt werden sollte, offensichtlich zu mir "Du kleines Mäuschen bleibst vielleicht lieber noch ein Jahr zuhause", worauf angeblich die Lehrerin einwarf, "Nein, sie bleibt nicht zuhause, sie ist mein bestes Stück."


4. Meine Mutter sagt, so oft hätte sie meinen Vater verlassen wollen in all den Jahren, aber jetzt nicht mehr, "jetzt bleibe ich bei ihm". Sie hätten es halt ausgehalten. Das machte ja heute keiner mehr. Es aushalten. Später im Bett lese ich ein Grimms Märchen von den "Drei kleinen Männchen", in dem der Witwer, dem eine Witwe über den Umweg ihrer Tochter einen Heiratsvorschlag macht, verwirrt sagt: "Was soll ich tun? Das Heiraten ist eine Freude und ist auch eine Qual." (Das Märchen endet aber unglücklich für die Witwe und ihre Tochter, die, wie sich zeigt, böse, neidische Menschen sind.)

Samstag, 21. Dezember 2013

Schürfungen (Hautabschürfungen)

"Schon ist diese Wohnung (am dritten Tag) vom Netz unserer Bewegungen durchzogen. Endlich konnten wir in diesem Bett mit dem roten Spannbettuch aus Frottee, vor dem kleinen Fenster am Kopfende, das zu den Gleisen hinausführt, uns berühren, endlich waren unsere Körper aus der Spannung entkommen, die diese neue Umgebung und dieses neue Leben über sie gelegt hatte. Eine Haut hatte sich über der Haut gebildet; in der letzten Nacht sind wir herausgekrochen, die Hände, die Zungen waren überall." (1998)

Freitag, 20. Dezember 2013

Fußbodenthematik (Fortsetzung) + Traum

Ich nahm heute dann doch den großen Pinsel hervor, nutzte die Abwesenheit der Katzen aus, die vorübergehend bei P untergebracht sind, und übermalte einen großen Teil des Bodens neu. Fast immer mache ich solche Arbeiten im Vorübergehen, oder eigentlich versehentlich, ich fange irgendwie an (meine Rastlosigkeit), obwohl ich etwas anderes tun sollte (z.B. heute frühstücken, duschen, nach der Heimkehr von der Arbeit am frühen Morgen), habe dann schon mal angefangen und mache also weiter. Die gelassene Freude von Menschen, die zur rechten Zeit tun, was getan werden muss, stellt sich bei mir deshalb normalerweise nicht ein, jedenfalls nicht während der Arbeit, aber eine andere Art der Freude schon. Die Freude über den jetzt weiß glänzenden Fußboden, den ich nicht mehr verschämt unter einem seltsamen Teppich verstecken muss.


Ich träumte auch in der Nacht, mehrere Alpträume hintereinander, kann mich aber genauer nur an einen erinnern, die Ermordung eines Mannes mit langen braunen Haaren. Wer die Mörder waren, weiß ich nicht, ich kannte sie aber. Er wurde durch die Luft geschleudert (Gab es eine Schleuder? Es gab einen Abgrund!) und zwar so, dass er mit den Füßen zuerst am Boden aufkam. Das war an dem Ganzen irgendwie wichtig. Dass er mit den Füßen zuerst aufkam, steigerte die Grausamkeit. Dass er von den Füßen her gestaucht wurde, dass er an seinem eigenen Gewicht starb. Es war so böse, so gemein. Er kam ja mit dem Boden in Kontakt, als hätte er nur einen kleinen Sprung gewagt, als wäre er gerade noch mal davon gekommen. In dem Moment hatte ich Augenkontakt mit ihm. Die Beine verschwanden total. Ich weiß nicht mehr, ob ich vom Traum aufwachte oder davon, dass E meinen Namen rief und mich so rettete.

Donnerstag, 19. Dezember 2013

Fußbodenthematik




Wie ich mit den Katzenkratz-Stellen im weißen Fußbodenlack umgehen sollte, war übrigens ein mentales Dauerthema der letzten Monate/Wochen. Ich plante, das Ganze gründlich anzugehen, vielleicht das Zimmer auszuräumen, den Boden komplett abschleifen zu lassen oder zumindest die jeweiligen Stellen mit Sandpapier zu bearbeiten etc. Meine jetzige (gestern Abend kurzerhand in Angriff genommene) Lösung besteht darin, dass ich mit einem kleinen Pinsel einfach drübermale. Schluss, fertig. Jetzt nehme ich mir vor (nicht zum ersten Mal), dass ich diesen Pinsel jedes Mal hervornehme, wenn ich das Zimmer sowieso putze. Der Boden sieht sofort viel besser aus, macht mir nicht so viel Sorge, verwandelt sich nicht in Seelenmüll.

Mittwoch, 18. Dezember 2013

[Nachlese]

[Es bereitet mir übrigens neuerdings Vergnügen, in meinem Blog herumzustreunern. Ich bin dann so im Nachhinein doch irgendwie froh, dass ich all diese kleinen Krumen ausgestreut habe, auch wenn sie mir zum Zeitpunkt ihres Entstehens nichtsnutzig vorkamen und sogar blöd]

Es ist schon ein ziemliches Rätsel

Es ist schon ein ziemliches Rätsel, warum ich immer noch hier lebe. In diesem Land, das mit mir eigentlich nichts anfangen kann, mit dem ich eigentlich nicht besonders viel anfangen kann.

In dieser grauen Trostlosigkeit, diesem niemals endenden inneren November.

Vielleicht ist das die ultimate Trostlosigkeit, die ich gesucht habe, diese maximale Heimatlosigkeit, dieses ungedämpfte Gefühl des Alleinseins. Gibt es überhaupt etwas anderes für mich? (Wenn nein, was die wahrscheinliche Antwort ist, warum eigentlich nicht?)

Irgendwie, so dachte ich mal des Nachts, lebe ich in meiner Wohnung wie ein Asket in seiner Höhle. Kommt von hier aus irgendeine Einsicht, ein heiliger Funke?

Vielleicht habe ich immer Erzählungen von Menschen geliebt, die mit abgeschnittenen Fingerhandschuhen in schlecht geheizten Zimmern in irgendwelchen Industriegebäuden lebten, mit stinkendem Ölofen, einem Schal um den Hals, aber immer mit irgendetwas beschäftigt, nein, nicht beschäftigt, sondern IN ETWAS VERTIEFT.

Es diese VERTIEFUNG, die mir abgeht. Ich komme über die "Beschäftigung" nicht hinaus.

Wann, so fragte ich mich auch, hat mein Leben eigentlich angefangen, hauptsächlich vom Überleben zu handeln? Damit meine ich das finanzielle Überleben, das Dach überm Kopf, das Brot auf dem Tisch.


Montag, 16. Dezember 2013

Nachtwachgedanken

In der Nacht war ich wach. Wörter tauchten auf, die mir irgendwie gut vorkamen, passend, zutreffend auf mein Leben.

Ich dachte: 'Ich müsste all diese Wörter auf blaue Zettel schreiben.'

Warum blaue Zettel? Es erschien mir selbstverständlich, dass diese Zettel blau sein müssten.

Natürlich habe ich die Wörter jetzt vergessen, weil ich sie nicht aufschrieb, sondern nur in ihnen herumlag, in meinen Wortkokons.

Ich legte mir die Hände aufs Herz, dann auf den Bauch, und spürte den Schlaf herankriechen. Diese jahrelange Erfahrung mit Schlaflosigkeit hat mich wirklich gelehrt, den Schlaf zu erkennen, wenn er sich vorsichtig vorwärtstastet.

Der Übergang von Wachsein zu Schlaf: Die Gedanken scheinen "wach", sind aber schon Schlafgedanken.

Dienstag, 10. Dezember 2013

Was ist los

10 Dinge, die heute gut waren:

(an einem Tag wie heute ist diese Übung eine wirkliche Herausforderung)

1. Der junge indische Medizinstudent mit dem Parka und den weißen AllStar-Schuhen auf der gesamten Bus- und Zugfahrt Lund-Malmö
2. Der Mailwechsel mit dem ebay-Verkäufer, bei dem ich ein fünfzig Jahre altes Fernglas zum Vögel-Schauen auf Lesvos ersteigert habe
3. Der Falafel im guten Brot auf dem Weg von der Hautklinik nach Hause
4. Der Mann in der Fahrradwerkstatt, der mich bat, mich vor eine an seine Tür gezeichnete Messlatte zu stellen, weil er neugierig war, wie groß ich bin
5. Die Tatsache, dass ich das Fahrrad heute zur Rundum-Reparatur in die Werkstatt gebracht habe
6. Dass ich die fürchterliche, grauslige Übersetzung, die ich viel zu übereilt angenommen habe, zu einem beruhigenden Punkt vorwärtsgetrieben habe
7. Eine Viertelstunde Akkordeonspielen, bei der meine Finger die Tasten von selber fanden
8. Dass Maria mein Foto mit der Aussicht von ihrem Café in Molyvos auf ihrer Facebook-Seite geteilt hat
9. Dass ich jetzt weiß, wie man aus zwei Konservendosen einen Holzgaskocher herstellt
10.(Bei diesem Punkt sitze ich lange herum, es fällt mir nichts ein, außer vielleicht der Tatsache, dass ich den Waschkeller für morgen gebucht habe, oder dass ich gleich ein Glas Rotwein trinken werde, aber das liegt ja noch in der Zukunft.)

Sonntag, 8. Dezember 2013

Die Menschen, die ich bewundere,...

...die mir als Vorbild dienen, sind solche, die für etwas brennen, was über ihr kleines Leben hinausgeht, auch über Aufträge oder Pflichten, über Ökonomie und Haushalt. Menschen, die genau hinschauen, kreativ sind (damit meine ich nicht kleinkrämerische, geschäftige "Kreativität"), wirklich schaffend. Und auch Menschen, die anderen vorbehaltlos begegnen, die offen sind, empfänglich, feinfühlig.

Donnerstag, 5. Dezember 2013

Die Augen

Die Augenschmerzen führen mich zu dem Entschluss, am Tag nur eine Stunde am Computer zu verbringen. Ich habe schon einmal so eine Phase durchgemacht, dann ist es lange Zeit besser gewesen. Ich bildete mir schon ein, dass ich die Beschwerden völlig überwunden hatte. Jetzt sind sie zurückgekommen, vielleicht schlimmer als vorher, jedenfalls unangenehm.

Inseltag [Nachlese: unplugged]



"In der Nacht wachte ich öfter auf. Ich schaute auf die Uhr. Es war ein Uhr, dann fünf Uhr. Ich legte mich wieder schlafen, träumte, dass ich in einem Wald spazieren ging. Plötzlich kam aus dem Dickicht eine Stimme. Ich solle still stehen bleiben. Ich blieb still stehen. Ein Mann kam hervor und deutete auf eine Gestalt ganz in der Nähe. Hinter mir. Es war ein Elch, der ruhig und majestätisch daherkam. Ich dachte, der Mann, der offensichtlich ein Jäger war, wolle ihn erschießen. Aber er tat es nicht. Er sagte: "Ich kann den Elch nicht erschießen, weil schon er zu nahe gekommen ist. Ich habe ihm bereits in die Augen gesehen". Ich betrachtete den Mann näher. Er sah so sympathisch aus, mit einem jugendlichen Gesicht und doch deutlichen Lachfältchen um die Augen, ernst und humorvoll zugleich. Er hatte Outdoor-Kleider an in Tarnfarben an und war allem Anschein nach Japaner, was mir in dem Zusammenhang irgendwie bemerkenswert vorkam.


S hatte mir, als sie auf einer unserer Wanderungen völler Enthusiasmus Schafsschädel aufgehoben, begutachtet, in ihren Rucksack gesteckt hatte, als "Geburtstagsgeschenk für meinen Sohn", erzählt, dass ihr Vater, wenn er eine Rindersuppe gemacht hatte, die Wirbelknochen mit bunter Farbe angemalt hatte, so dass sie aussahen wie kleine Tiere.
Ich wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Geschichte von ihrem Vater war.
"Hat dir das gefallen?" fragte ich.
"Es hat mir gefallen. Ich fand, mein Vater war besonders, weil er solche Dinge machte."


Ich öffnete am Morgen die Tür und war erfreut, dass Cleo hereinmarschierte. Den dicken Max, der immer sein rosa Mäulchen aufreißt, selbst wenn er erst einige Minuten vorher eine Riesenschale Futter verdrückt hat, schob ich zur Tür hinaus. Cleo war natürlich hungrig, aber sie sollte nichts fressen, weil ich sie ja zur Operation bringen wollte. Ich fühlte mich aufgeräumt, gut gelaunt, denn ich war die ganze Nacht unruhig gewesen, wie es denn heute Morgen gehen würde, ob ich die Operation wieder absagen müsste, ob ich sie rechtzeitig ins Auto bringen würde, ob es mir überhaupt gelingen würde, sie in den Käfig zu locken.


Ich trinke jetzt Kamillentee, weil ich Bauchschmerzen habe, weil der Tag mich erschöpft hat, weil ich mehrmals den Tränen nahe war, mehrmals unruhig, und weil die Unruhe immer noch nicht vorüber ist. Cleo lief mir frisch operiert weg. Diese kleine wilde Katze hielt es nicht aus, eingesperrt zu sein, selbst als sie von der Betäubung noch ganz wacklig auf den Beinen war, immer wieder umfiel. Sie entschwand durch die Tür, die ich nur einen kurzen Augenblick lang geöffnet hatte, um etwas von der Terrasse zu holen, und ich folgte ihr mit meinen Flipflops und in Socken durch den Dreck, versuchte schneller zu sein als sie, aber sie entkam mir, schlüpfte schließlich unter einem Zaun durch und war außer Reichweite.


Ich ging bedrückt zurück zum Haus, räumte alles weg, was ich für sie vorbereitet hatte, die Decke, die Schüssel mit dem Katzensand, die drei Schüsselchen mit verschiedenen Dingen zum Fressen, Thunfisch, dicker Joghurt, das teuerste Katzenfutter, das sie in der Tierklinik hatten.


Cleo war verschwunden, und ich ging ins Dorf, um ein Bier zu trinken, eine Zigarette zu rauchen und in mein Tagebuch zu schreiben. Am Morgen in Kalloní hatte ich einige Beobachtungen gemacht, die ich niederschreiben wollte. Zum Beispiel die Frau, die mit ihren Röntgenbildern in der Hand durch eine Gasse ging. Das Röntgenbild eines Hundekörpers an der Lichttafel der Tierarztpraxis. Die ungastlichen Käfige mit gefliesten Wänden. Wie Cleo versuchte, an der Wand hochzuklettern, aber zurück fiel, so dass ich sie packen konnte, mit den dicken Greifhandschuhen und sie, die zappelte, versuchte zu beißen, die Krallen in mich zu schlagen, mit festem Griff in die Tierarztpraxis zurückbrachte, wo ich sie in den Behandlungskäfig steckte.

Ich wollte auch von dem Café schreiben, in dem ich saß, als Cleo operiert wurde, trotz seiner gepolsterten Stühle ungemütlich, voller Zigarettenrauch, obwohl auch in griechischen Cafés das Rauchen verboten ist. An einem Tisch saß eine Frau mit einem zuckenden Kopf, die nichts bestellte, und auch eine offensichtlich trauernde Gesellschaft war da, schwarzgekleidete Frauen, die dicht zusammen saßen. Ich ging dreimal zur Toilette im ersten Stock, weil ich mir wegen Cleo solche Sorgen machte. Beim dritten Mal funktionierte die Spülung nicht, und ich musste fliehen.


Die Tierärztin hatte einen schwarzen Rollkragenpullover und schwarze Jeans an. Zwei Risikofaktoren gab es, erklärte sie mir. Der eine, dass die Katze möglicherweise an Speiseresten ersticken könnte, die während der Anästhesie in ihre Lunge wanderten. Der zweite, dass man sie überhaupt nicht operieren könnte, falls sie trächtig wäre. Wir haben so viele Hürden überwunden, denke ich jetzt, wir sind so weit gekommen. Sie war nicht trächtig, sie überlebte die Operation. Ich habe sie in mein Zimmer gebracht, sie aus dem Käfig gelassen. Ich wollte es ihr ermöglichen, dass sie langsam aus der Betäubung aufwacht. Aber sie hat es in dem geschlossenen Raum nicht ausgehalten, es hat sie nach draußen gezogen, und seitdem ist sie auch nicht wieder zurückgekommen.


Ich ging in mein Stammcafé, um ein Bier zu trinken und eine Zigarette zu rauchen. Ein Arbeiter an einem Nachbartisch, der eine Tasche dabei hatte, aus dem eine Wasserwaage herausragte, reichte mir seinen Tabak, Filter, ein Feuerzeug. Die Sonne schien beinahe warm, und ich setzte mich einen kurzen Augenblick auf den Balkon, auf einen Stuhl mit geflochtenem Sitz, ich rauchte, trank mein kaltes Mythos, ich versuchte die kühle Nachmittagsluft tief einzuatmen, mich von der Anspannung des Tages zu befreien.


Es kommen Frauen, stark geschminkt, mit gefärbten Haaren. Sie schließen die Balkontür, weil es kühl geworden ist. Sie rauchen, trinken Kaffee, lachen, reden. Als sie gehen, öffne ich die Tür, damit frische Luft hereinkommt.


Ich muss meine Geschichte jemandem erzählen, gehe zu der Frau an der Theke. Sie erzählt mir dann ihre Geschichte. Dass sie in Athen geboren ist. Dass sie als Kind im Sommer immer mehrere Monate in Molyvos verbracht hat. Dass sie immer hierher zurückkehren wollte. Dass ihre Athener Freunde sie auslachten, ihr prophezeitenn, dass sie es hier nicht aushalten würde. Vor vier Jahren sei sie gekommen, mit ihren Eltern, ihrer jetzt neunjährigen Tochter, mit denen sie in einem Haus wohnt. Sie sei ein völlig anderer Mensch geworden.


"In Athen habe ich putzen gehasst", sagte sie. "Hier liebe ich Putzen."
"Hier habe ich einen kleinen Garten, in dem ich Gemüse ziehe. In Athen hätte ich mir meine Hände nie schmutzig gemacht."
Meine Freunde in Athen können nicht begreifen, dass ich Oliven ernte. Oliven. Sie lacht.
Sie erzählt von ihrem Hund, den sie vor ein paar Monaten aus einem Tierheim in Mytilini geholt hat. Er war ein geschlagener, traumatisierte Hund, man hatte ihn unter einem Auto gefunden, zitternd, abgemagert, voller Angst. Er hat immer noch Angst vor Autos, vor der Farbe Schwarz, vor Männern. Sie zeigt mir ein Bild von ihrem Hund und ihrer Tochter zusammen.


"Ich mache jede Arbeit", sagt sie. "Es ist mir egal. Ich möchte arbeiten, um Geld zu verdienen, aber es ist mir egal, was ich arbeite."


Es fällt in ihrer Gegenwart das Verlangen von mir ab, irgendetwas Besonderes sein zu müssen."

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Inselmenschen II

Petros, der alte Fischer aus Petra, der mich einlädt, Apfelsinen in seinem Garten zu pflücken, die er dann gegen eine Liebesstunde eintauschen möchte ("One Sex", nennt er es und betont, er habe schon einmal mit einer Ärztin Liebe gemacht). Der alte, plumpe Körper, die gierigen Hände, der hungrige Mund, und der resiginierte Blick, als ich gehe, mich verabschiede, das Tor hinter mir schließe, meine Plastiktüte mit den Apfelsinen in der Hand. "I love you", flüstert er durch die Gitterstäbe, ich beeile mich, schnell zu meinem Fahrrad zu kommen.

Traum vor dem Aufwachen

Ich war sehr klein, und die haarige Spinne, die vor mir an ihrem Faden baumelte, war sehr groß. Jemand rief meinen Namen. Erst beim zweiten Mal Rufen wachte ich auf.

Und wieder einmal schlaflos

Im Schlaflostunnel. Kleine Zipfel von Schlaf, die ich erst erhasche, wenn sie schon wieder vorbei sind.

Und plötzlich taucht ein Titel auf: "Die Schwebe". Es kommt mir vor, als könne er eine Zeitlang halten. Voller Tatendrang schwimme ich am Vormittag erst 1000 Meter, kaufe dann 50 Blatt feinstes Papier, die ich im Regen nach Hause balanciere. Ich denke an Beckett, Handke, Auster, Pamuk. Ich gebe hiermit zu, dass ich an sie denke. Die Handschreiber, die mir einfallen.

Am Morgen nehme ich den falschen Ausgang aus dem U-Bahnhof, nach 3 Stunden Schlaf kann ich lenks und richts nicht mehr auseinanderhalten ("lenks" schrieb sich selbst, die Fortsetzung ergab sich dann so). Ich kehre vor den Wachmännern mit den gelben Leuchtjacken wieder um, fahre die Rolltreppe wieder hinab unter die Erde und vergnüge mich eine Weile lang mit dem Gedanken, dass sie glauben, ich hätte etwas zu verbergen.

Ganz unverständlich ist mir, dass ich hin und wieder von dem Drang ergriffen werde, völlig daneben zu greifen im Lebensmittelladen. Würste, Thunfisch, Krabben. Bloß vor der Mayonnaise kann ich noch rechtzeitig halt machen.


Dienstag, 3. Dezember 2013

Diese Kritzelbücher

Überall in der Wohnung stoße ich auf Kritzelbücher. Bücher, in denen ich vielleicht zwanzig Seiten gefüllt habe, bis ich meiner selber überdrüssig war. Wegwerfen konnte ich sie dann doch nicht, erklärte sie aber für unwert.

Zeugnisse meiner inneren Verdrehungen.

Ich träumte, träumte heute nacht...

Es war, als hörte ich mich selber atmen, im Schlaf.

Mehrmals wachte ich auf, glaubte, dass ich noch auf der Insel war, lauschte in die Stille hinein. Es war der Fuchs, der atmete, im Dunkeln, draußen vor der Tür.

Dann sah ich ein, dass ich in meinem Bett lag.

Montag, 2. Dezember 2013

Inselmenschen I

1. Die drei Schuljungen, die ich im Auto von Kalloní nach Petra mitnehme. Ich frage sie nach einer Weile, was sie für Lieblingsfächer haben. Der Junge mit der Zahnspange, der neben mir sitzt, sagt: "Geographie. Geschichte. Mathematik." Einer der beiden Jungen auf der Rückbank sagt: "Sport." Der dritte, der am wenigsten redet, weil sein Englisch am schlechtesten ist und der später meinen Autofahrstil mit einer überraschenden Vokabel "drifty" nennt, was ich für ein Kompliment halte, sagt: "Autos reparieren." Ich versuche herauszufinden, ob das ein Schulfach ist, komme aber nicht zu einer eindeutigen Antwort.

2. Der Nachbar Giannis, der mir sagt, dass er den ganzen November lang mit seiner Frau Eleni Oliven erntet. Er schlägt die Oliven mit langen Stöcken von den Ästen, dann werden sie aufgesammelt, sortiert. Das werden 10 000 Liter feinsten Olivenöls. Wir arbeiten jeden Tag so lange wir Lust haben, sagt er. Manchmal bis um zwei, manchmal bis um drei. Und so lange der Körper mitmacht.

3. Peter oder Panagotis, den ich in einem Café in Agiasos treffe, wo er mich auf englisch anspricht, sich an meinen Tisch setzt, mir von seinem Leben erzählt. Innerhalb zwanzig Minuten erfahre ich, dass er in New York, wo er 22 Jahre gelebt hat, 350 Dollar am Tag verdiente, dass er hier zwar keine Arbeit, aber Eigentum hat, dass er zwei Kinder hat, die in Amerika leben und beide "doctors" sind, dass er vom Beruf her eigentlich Koch ist, aber in New York mit "Construction" gearbeitet hat. Dass er seit vier Jahren von seiner amerikanischen Frau geschieden ist, dass ihn das aber nicht mehr juckt. Dass in diesem kleinen Bergdorf die meisten Bewohner Arschlöcher sind, bis auf die wenigen Freunde, von denen er in der kurzen Zeit zwei vorstellt. Der eine davon ein Gemüsehändler, der mich mit dem Pickup in den Ort mitnimmt, in dem mein Mietauto steht. Peter schreibt mir seine Telefonnummer auf und sagt, wenn ich einmal seine ganze Geschichte hören will, soll ich ihn anrufen.

4. Die junge Frau in Marys Café, die vor vier Jahren von Athen nach Molyvos gezogen ist. Es ist im Winter besser hier als im Sommer, sagt sie. Sie sagt, im Sommer dürfen die Touristen die Insel lieben. Im Winter darf ich sie selber lieben.

5. Eine Frau, die ich in Mandamados in einem Café treffe, wo sie an einem Tisch am Computer sitzt, weshalb ich sie für einen Gast halte. Ich wollte eigentlich etwas zu essen haben, aber sie sagte, sie machten erst abends auf. In dem kurzen Gespräch, das sich daraufhin entspinnt, erfahre ich, dass sie eigentlich aus Kanada ist, aber seit zehn Jahren auf der Insel lebt. Es gefällt mir, sagt sie, dass meine Kinder in einem Dorf aufwachsen, und es gibt überhaupt vieles, was mir an dem Leben hier gefällt. Trotzdem, sagt sie, kann ich nie aufhören, darüber nachzudenken, ob es besser wäre, zurück nach Kanada zu ziehen. Es ist mein ewiges Dilemma. Ich habe eigentlich immer Heimweh. Als das Wort gefallen ist, "homesick", ist es, als sei sie selber davon überrascht, als habe sie bisher nicht gewagt, es so deutlich zu denken.

Neu anfangen

Ich habe mir heute überlegt, ob ich diesen Blog einfach abschließen soll, ihn ins Nichts auslaufen lassen soll und mit einem neuen Blog beginnen.

Wie sollte ich den neuen Blog nennen? Ich dachte an Titel, die ich gleich als albern verwarf, die ich aber jetzt vergessen habe. "Schlamm", denke ich jetzt, aber ich weiß nicht, wie ich auf dieses Wort komme.

Ich möchte, dass mein Blog näher an meinem Leben ist, näher an mir dran. An meinen ständigen Augenschmerzen zum Beispiel. An dem ständigen Zucken meines linken Auges. Ein unmerkliches Zucken, das ein Außenstehender wahrscheinlich nicht wahrnehmen würde.

Ich raschelte im Flugzeug mit den riesigen Zeitungsseiten, las die "Zeit" von vorne nach hinten, klappte sie um, blätterte sie nochmal durch (wie gesagt, ständig mit meinen Schmerzen kämpfend, dem ständigen Druck auf meinen Schläfen), schwelgte in meiner Zeitungsleserei.

Ich nahm heute Abschied von der Insel. Flog von einer Welt in eine andere, mit Zwischenlandung. Schaue mir die Bilder an, die ich gemacht habe, wie Zeugnisse eines Traums.

Ich kritzelte im Flugzeug in mein rotes Buch.

Neugierig auf das, was ich geschrieben habe, finde ich Sätze wie:

"Ich machte mir ein Fresspaket zurecht, warf es aber dann in den Müllcontainer, ganz einfach, weil ich am Athener Flugplatz nicht so armselig auf irgendeiner Treppe sitzen will und meine gekochten Eier essen."

"Gestern abend hatte ich Gesellschaft von dem philosophischen und etwas melancholischen Kater Claudius. Als ich später noch einmal auf die Terrasse ging, sah ich den Fuchs. Alle fürchten den Fuchs. Er stand ganz still im Dunkeln. Drehte den Kopf nach hinten. Blickte mich an."

"Um 4 Uhr wachte ich auf und sah Afro auf der Türmatte liegen, eingerollt. Ich ließ sie herein, sie sprang aufs Bett, rollte sich zusammen, schnurrte. Danach gab es für mich nicht mehr so viel Schlaf, bis um 1/2 sechs der Wecker klingelte, auch wenn ich zweimal bemerkte, dass ich offensichtlich geträumt hatte."

Der dunkelhäutige Schaffner im Zug von Kopenhagen nach Malmö hatte seine Wollmütze tief in die Stirn gezogen. Jede Fahrkarte, die er zu sehen bekam, kommentierte er enthusiastisch mit "Super!". Als ich ausstieg, wünschte er allen Aussteigenden einen schönen Abend.

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...