Mittwoch, 29. Dezember 2010

Gegen Ende des Jahres


Gibt es gegen Ende des Jahres einen inneren Drang, eine Art Zusammenfassung zu erstellen, eine Liste von Ereignissen, mit denen man sich identifizieren kann, von denen man behaupten kann, dass sie dieses Jahr repräsentieren, das ja eigentlich nie angefangen hat und auch nicht enden wird? Ich weiß nur so viel: dass eigentlich jede meiner Erinnerungen mich täuscht, und das, obwohl ich in meine Erinnerungen verliebt bin, mit ihnen spiele, wie ein Kind mit Puppen spielt, die es immer wieder neu an- und auskleidet, hin- und herlaufen und Gespräche führen lässt, denen es andichtet, wonach ihm im Moment gerade zumute ist...

Dienstag, 28. Dezember 2010

Bericht aus den Zwischentagen

Vor zwei Tagen war alles ganz anders. In zwei Tagen wird alles wieder ganz anders sein. Plötzlich (und vielleicht nur in dieser Sekunde) kann ich die Ungewissheit umarmen, die Irrtümer, den Schmerz, sehe ich die Schönheit darin, dass mir alles entgleitet, dass es sich nicht festhalten lässt.  

Mittwoch, 22. Dezember 2010

Ich dachte Folgendes:

Ich dachte Folgendes: Ich könnte mich als jemand anderes verkleiden. Ich könnte mir einen Bart ankleben oder mir eine Perücke aufsetzen. Ich könnte mit einer anderen Stimme reden, einer tieferen oder einer höheren. Ich könnte mir einen anderen Namen geben und behaupten, dass ich von irgendwo herkomme, wo ich noch nie gewesen bin. Es ist schließlich nicht völlig undenkbar, dass ich zwölf Jahre lang verschwunden war und jetzt erst wieder auftauche. Dort, wo ich gewesen bin, kannte man meine wirkliche Identität auch nicht, und keiner wusste, wo ich herkam. Das gefiel mir. Ich wohnte in einem kleinen Haus und hackte täglich Holz für meinen Ofen. Ich hatte auch einen kleinen Garten (eher ein Beet), in dem ich v.a. Palsternaken zog. Ich lernte viele verschiedene Arten der Palsternakenzubereitung und zog in Erwägung, ein Kochbuch mit ausschließlich Palsternakenrezepten zu schreiben. Ich redete kaum, nur das Allernötigste und galt als Einzelgänger, war jedoch im Ort nicht unbeliebt. Ich hatte so viel Geld, dass ich tun konnte, was ich wollte, war aber genügsam und nicht an materiellen Dingen interessiert. Undsoweiter.

Montag, 20. Dezember 2010

HALLO

Ich: Hallo? Märi? Kannst du mich hören? Obwohl hier, wo ich mich befinde, alles dafür spricht, dass ich tot bin und auf meine Verbrennung warte. Die Männer vom Verbrennungsinstitut haben schon Zettel zurechtgelegt mit den Aufschriften „Arm“, „Bein“ etc. Meinen künstlichen Unterschenkel habe ich in einem Umkleideraum an einen Kleiderhaken gehängt. Ich fand immer, dass er ein sehr natürliches Aussehen hat. Er war so naturgetreu, dass er mich juckte wie ein richtiges Bein, und wenn ich mich dann kratzen wollte, stieß ich auf was Kaltes und erschrak. Meiner Mutter findet, dass ich an meinem Tod selber schuld bin, wegen meinem Lebenswandel. Ich fühle mich ehrlich gesagt fürchterlich. Sie reden immer von einem Gefühl der Erleichterung, das über einen kommt, aber das kann ich bis jetzt nicht bestätigen. Ich ver­suche gerade, dir eine Ansichtskarte zu schreiben, auf der ich verfüge, dass du dich um die Durchsicht meiner Aufzeichnungen kümmern sollst. Aber ich kriege es nicht fertig, diese Information zu formulieren. Alles, was ich schreibe, ist total unverständlich. Märi, sag doch mal, wie ist der Empfang?
Märi: Ist in Ordnung, ich hör, was du sagst.
Ich: Hast du grad keine Zeit? Ich hör sofort auf, Märi, wenn ich dich störe.
Märi: Red nur weiter, ich backe grade Windbeutel, und mach mir nur Sorgen, dass sie zusammenfallen.
Ich: Es dauert nicht lang. Es ist bestimmt bald vorüber. Du bist mir eingefallen. Es ist mir sonst niemand eingefallen.
Märi: Beschreib mal was, dann können wir weitersehen.
Ich: Es gibt nichts, was ich beschreiben kann. Oder warte mal, vielleicht doch. Es ist eine Art Parkhaus, und ich befinde mich im obersten Stock, glaube ich. Es ist ein ziemlich scheußlicher Ort. Überall diese öligen Pfützen, außerdem stinkt es verfault. Im Fußboden gibt es ein paar Löcher, aus denen schauen die Eisenstangen raus. In den Wänden sind auch Risse, und es tropft von der Decke. Ein paar Gerüste stehen herum, aber sie sehen eher wackelig aus, ich trau mich nicht hinaufzusteigen. He übrigens, was meinst du denn mit „weitersehen“, was meinst du eigentlich mit „dann können wir weitersehen“?
Märi: Ich versteh kein Wort, der Empfang ist wirklich….
Ich: Es war nicht so wichtig.
Märi: Jetzt hör ich dich besser. Was soll denn das mit dem Unterschenkel, du hast mir nie davon erzählt, dass du eine Prothese hast.
Ich: Vergessen, habs vergessen.
Märi: Du lügst.
Ich: Ich lüge, na und, aber einen Moment lang habe ich es selbst geglaubt. Macht es denn jetzt noch einen Unterschied? Das Bein hat mich übrigens immer gejuckt an einer bestimmten Stelle, juckt mich jetzt noch, wenn ichs genau betrachte.
Märi: Hast du eigentlich was im Mund, weil du so undeutlich redest?
Ich: Bloß ein paar Münzen, gut gegen trockenen Hals und Sodbrennen.
Märi: Es wundert mich ehrlich gesagt nicht besonders ich habe schon lange gedacht dass irgendwas…
Ich: Fang bitte nicht an zu heulen. Ich fühle mich hier eigentlich ziemlich wohl. Ich hab mich immer am wohlsten gefühlt, wenn ich allein war. Soll ich vielleicht mal die Aussicht beschreiben? Ich glaube, dass das Gebäude gegenüber irgendein Amt ist, ein Arbeits- oder Finanzamt, es ist schwer zu sagen. Und da ist eine Mauer, hinter die ich nicht schauen kann, weil sie so hoch ist, und davor ein Grünstreifen, und davor ein Zaun mit Stacheldraht. Ich sehe auch den Eingang zu einem Fitness-Studio, glaube ich. Ich kann durch die Fenster reinschauen und seh die Maschinen. Dort sind auch haufenweise Spiegel an den Wänden, weiß nicht genau, wozu. Wo bin ich, Märi?
Märi: Ich musste gestern auf einmal an dich denken. Dass dir beim Fischessen einmal eine Gräte im Hals stecken geblieben ist und ich gedacht habe, das du erstickst. Und nächstes Mal wolltest du wieder Fisch essen, und wieder blieb dir eine Gräte im Hals stecken. Du hast einfach nie gelernt, dass man beim Fischessen auf die Gräten achten muss. Und jedesmal, wenn dir eine Gräte im Hals stecken geblieben ist, hast du so getan, als würdest du ersticken. Plötzlich war ich sauer, weil du mich jedes Mal dazu gezwungen hast, bei deinem Theater mitzuspielen.
Ich: Du musst mich mit jemandem verwechseln. Ich kann Fisch nicht ausstehen. Oder ich dich mit jemandem. Die Zeit ist immer am Anfang am längsten, dann vergeht sie schneller. Vielleicht finde ich hier was zum Schreiben, ich habe nicht einmal einen Bleistiftstummel bei mir. Vielleicht bleibt mir nichts anderes übrig, als mit einem Stöckchen in den Dreck zu schreiben.
Märi: Immer wieder glaube ich, dass ich das Kätzchen irgendwo maunzen höre, oder ich sehe es über das Grundstück streifen. Über das Kätzchen habe ich mehr geweint als über dich, ist das nicht komisch?
Ich: Ich kann jetzt bald nicht mehr reden, bin ziemlich müde, weiß nicht, wo ich schlafen kann, vielleicht kann ich gar nicht schlafen. Auf dem linken Ohr höre ich schlecht, ich glaube, dass mir beim Schwimmen in der Donau Wasser reingelaufen ist. Ich ging plötzlich unter, und erst kämpfte ich dagegen an, dann ließ ich mich ganz einfach treiben. Andauernd habe ich Geld im Kopf, ich versuche auszurechnen, wieviel ich habe und wie lange es mir reicht, aber ich kann einfach zu keinem Ergebnis kommen. Ich hab so vieles versäumt, Märi. Vielleicht hätte ich in der Betonbranche eine Chance gehabt, mein Vater hätte mir bestimmt eine Stelle verschaffen können.
Märi: Immer lenkst du ab, wenn man mit dir reden will. Dauernd flitzt du über die Oberfläche hin und lässt niemanden in deine Nähe. Im Übrigen kann ich auf Fotos dein Gesicht seit einiger Zeit nicht mehr erkennen.
Ich: Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du redest. Mir ist nicht zum spaßen zumute, ich bin eher trüber Stimmung. Alles fließt so komisch zusammen, ich krieg es einfach nicht mehr deutlich hin.
Märi: Huste einmal kräftig und atme dann tief ein. Mach das ungefähr jede zweite Sekunde. Kannst du lächeln? Kannst du beide Arme heben? Sag bitte einmal einen Satz, der einen Sinn ergibt, z.B. „Die Sonne geht unter.“
Ich: Das ist es ja gerade. Es gerät mir durcheinander. Wenn ich mich selber an den Fußsohlen kitzle, spüre ich es in den Haarspitzen. Und wenn ich was rechts und links sehen will, muss ich den ganzen Kopf drehen, und das geht nur sehr langsam. Meinst du denn, ich komm noch mal weg von hier? Ich weiß aber gar nicht, ob ich von hier weg will. Ich fange schon an, mich hier zu Hause zu fühlen.
Märi: Erinnerst du dich denn an irgendwas von früher?
Ich: Na, ich weiß auch nicht. Ich muss mich wirklich sehr anstrengen. Ich bilde mir zwar ein, dass ich mich an was erinnere, aber dann fällt mir auf, dass etwas nicht stimmt. Die Menschen flüstern z.B., wo sie laut reden sollten. Plötzlich bin ich ganz woanders als ich glaubte. Dann wache ich auf und begreife, dass ich soeben geschlafen habe und alles nur ein Traum war, der dann an mir hängt wie ein großer Käfer. War ich z.B. wirklich einmal in Neapel?
Märi: Ich glaube, wir müssen jetzt bald aufhören. Ich habe bereits Blumen gekauft für dein Grab.
Ich: Es ist wie ein Schwarzweißfilm, aber ohne Ton und in Zeitlupe, außerdem läuft er rückwärts. Bevor ich stolpere, falle ich hin, und wenn ich aufstehe, habe ich es schon wieder total vergessen. Alles, was ich mal gesagt und gedacht habe, mein ganzes Leben… Mist… Ich glaube... Märi?
Märi: Hallo?

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Water Violet

Habe wieder ein wenig in meinen Bachblüten herumgeschnuppert und mich dabei (erneut) in diese Blume verliebt:

"For those who in health or illness like to be alone. Very quiet people, who move about without noise, speak little, and then gently. Very independent, capable and self-reliant. Almost free of the opinions of others. They are aloof, leave people alone and go their own way. Often clever and talented. Their peace and calmness is a blessing to those around them." /Dr. Edward Bach

Dienstag, 14. Dezember 2010

"ich bin die erste"

"ich bin die erste deren herz hoch wächst
in deinen augen immer grüner deinem irispaar.
ich bin die erste menschin heute hier."


(Aus: Ulrike Almut Sandig, "Zunder")

Zunderschwamm (Schnitt)

Montag, 13. Dezember 2010

Kinderbildprojekt

Alle zwei Jahre komme ich in das selbe Dorf in Südindien und fotografiere dort die selben Kinder. Die Bilder sind vom Januar 2009. In ca. einem Monat bin ich wieder dort.






Biberausflug (Zero Irony!)

Der Biber schnallte sich seinen Sprengstoffgürtel um und stieg in einen vollbesetzten Bus.

Er wusste nicht, wozu ein Sprengstoffgürtel eigentlich nütze war. Aber er fand, dass er damit wahnsinnig gut aussah.

Freitag, 10. Dezember 2010

Cybernachricht 2

"Je t’adore"

Ein leeres Haus (oder: Ich fand in meinen Papieren ein altes Gedicht)




Schon wieder sitze ich im Dunkeln
Schon wieder zweifel ich
an allem was ich je tat
Ich öffne die Hand
und mein Leben fällt hindurch
Es ist eine Handvoll Wasser
und vergebens bemühe ich mich
etwas zurückzubehalten

Einmal glaubte ich
ich würde etwas besitzen,
ich wäre ein Jemand
der mir ähnlich sah
und sich im Spiegel übermütig bewegte
Aber ich habe ja nichts
was ich mein eigen nennen könnte
Immer schreibe ich
was ich achtlos beiseitelege
Immer warte ich
auf einen besseren Tag
eine bessere Stunde
Ich bin ja nicht
Meine Reise hat nie begonnen
und findet kein Ende
Ich kenne keine Variationen
Ich kenne nicht die Vielfalt
nur die unendlichen Wiederholungen
An den Tagesfäden entlang
spinnt und webt sich mein Text

Ich höre die anderen sprechen
sie sprechen so gut, so gut
Ich höre sie singen
sie singen so gut, so gut
Ich allein kann weder sprechen noch singen
An die Schwerfälligkeit meiner Zunge
bin ich gefesselt
Und sitze immer noch
in dieser großen Erwartung
wie ein Gelähmter im Rollstuhl sitzt
jederzeit bereit, aufzuspringen und zu gehen
Und keiner ist da, der sagt:
JETZT GEH! oder JETZT SPRICH!
Keiner ist da
der hinter die Wortlosigkeit
blickt und erkennt

Warum bin ich immer müde, so müde?
Woher kommt diese Traurigkeit, sie kommt dahergekrochen!
Ich kann ja nicht die Worte der anderen sprechen
nur meine eigenen
bilderlosen
kargen
hölzernen
leeren Räume
So sind meine Sätze: sie sind ein leeres Haus
So bin ich: ich bin ein ungeschriebener Text

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Katzenspielplatz

Der (mein Schnupfen- und Husten-)Weg durch die Wohnung ist gepflastert von Katzenspielzeug, das die Katzen aus ihrem Korb gezogen und durch die Wohnung geschleppt haben:

Das Glücksschwein.
Der gelbe Feudel.
Die Riesenplüschratte

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Tröstebuch Lieblingsbuch Lebensbuch

Zu diesem Buch komme ich in regelmäßigen Abständen zurück. Blättere, schaue, fühle mich wohl und seltsam getröstet. Den japanischen Text kann ich nicht lesen, ich schaue mir nur die Bilder an. Ich habe das Buch schon so lange, dass es mir beim Durchblättern so vorkommt, als würde ich alte Freunde besuchen. Freunde, die das Leben nicht dem Wohnen unterordnen, sondern umgekehrt.


Tokyo Style Kyoichi Tsuzuki

Dienstag, 7. Dezember 2010

Über Nacht


Malin Stattin, Viktor Gyllenberg
in der Tanzvorstellung "Blåställ"

Über Nacht war der Freund ganz grauhaarig geworden. Wir arbeiteten zusammen, aber ich sah ihn nur aus der Entfernung. Er war immer mit irgendetwas beschäftigt, und ich auch.

Als wir uns auf der Treppe begegneten, fragte er mich: "Hat es mit meiner Krankheit zu tun, dass du mir aus dem Weg gehst?"

Plötzlich sah ich, wie sehr er sich verändert hatte.

Ich flüsterte: "Es ist nicht leicht für mich. - Wie geht es dir?"

Er bewegte nur die Lippen als Antwort. Ich konnte lesen: "Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht."

Freitag, 3. Dezember 2010

Gibt es etwas Schöneres

Sevedvogel

Ich saß im Café und blätterte in Gedichtbänden. Plötzlich war die Stadt vor dem Fenster voll von schönen Menschen. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Schneematsch. Sie wussten nichts von ihrer eigenen Schönheit. Sie stampften mit den Füßen auf, wenn sie die Tür öffneten und den Raum betraten. Sie wanden sich den Schal vom Hals. Sie zogen sich die Mütze vom Kopf. Sie nahmen die Brille ab und bewegten sich mit zusammengekniffenen Augen durch den Raum, auf jemanden zu, den sie kannten und der die Arme öffnete, um sie zu umarmen.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Traumtraumtraum


Traumnacht. So viele Träume träumte ich, dass ich jetzt den ganzen Tag davon leben kann.

Und wenn ich alle Tagträume dazu rechne, dann besteht mein Leben momentan zu 96,5 % aus Träumen.

Ich frage mich, was meine Katze T in der Nacht träumt, wenn sie anfängt, im Schlaf Laute von sich zu geben, die klingen, als würde sie wirklich jemandem etwas zurufen (und in meinem eigenen Traum kann ich die Wörter sogar verstehen.)

Lesbos 13/12 2021

Am Morgen wachte ich zum Plätschern des Regens auf. Machte mir Kaffee, schmierte mir Brote, packte eine Portion gesalzene Oliven in den Ruck...